Unternehmereigenschaft bei defizitären Tätigkeiten – EuGH-Urteile „Gmina O.“ und „Gmina L.“ (C-612/21 und C-616/21)

In der Rechtssache „Gemeente Borsele“ hatte der EuGH bereits entschieden, dass rein symbolische Entgelte mit sehr geringer Kostendeckung kein Entgelt, sondern eher eine Art Gebühr seien. Damit besteht auch kein Recht auf Vorsteuerabzug.

Auch der BFH schloss sich in Bezug auf ein für 1  verpachtetes Schwimmbad dieser Sichtweise an (wir berichteten hier). Nun beurteilte der EuGH zwei Fälle, in denen Gemeinden Leistungen für ein Entgelt erbrachten, das zwar eine mehr als nur symbolische Höhe hatte, in denen die Tätigkeit aber dennoch defizitär war und wenn überhaupt nur durch staatliche Zuschüsse finanziert werden konnte. Der EuGH verneinte die Wirtschaftlichkeit dieser Tätigkeiten.

Sachverhalte: Gemeinde erbringt nicht kostendeckende Leistungen an Einwohner

Die beiden entschiedenen Fälle ähneln sich: Die polnische Gemeinde O. bot ihren Einwohner*innen an, von der Gemeinde anzuschaffende Anlagen für erneuerbare Energien bei ihnen zu installieren, ihnen zur Nutzung zu überlassen und später auch zu übereignen. Die Gemeinde erwartete hierfür eine Subvention in Höhe von 75 % der förderfähigen Kosten durch den zuständigen polnischen Verwaltungsbezirk. Die betreffenden Einwohner hatten an die Gemeinde eine Eigenbeteiligung in Höhe von 25 % der förderfähigen Kosten zu leisten, beschränkt auf einen bestimmten Höchstbetrag.

Die polnische Gemeinde L. beteiligte sich an einem landesweiten Programm zur Asbestbeseitigung. Auf Antrag ließ sie bei den berechtigten Einwohner*innen eine Asbestsanierung vornehmen, die für die Einwohner*innen kostenlos war. Die Gemeinde rechnete mit Zuschüssen in Höhe von 40 bis 100 % aus einem staatlichen Förderfonds.

EuGH: So handelt kein Unternehmer

Der EuGH sah das Problem in diesen Fällen eher nicht in der Entgeltlichkeit der Leistung – auch nicht im Fall der Gemeinde L., bei der die Einwohner*innen keine Zahlung leisten mussten: Ohne viele Worte wertete der EuGH die Zuschüsse als Entgelt von dritter Seite. Dass das Entgelt hinter dem Marktpreis zurückbleibt, ist an dieser Stelle ebenfalls unerheblich. Allerdings kam der EuGH zu dem Schluss, die Gemeinden hätten keine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt. Diese scheitere zum einen an der fehlenden Nachhaltigkeit, weil die Tätigkeit nicht auf Wiederholung angelegt war, zum anderen stellte der EuGH darauf ab, dass die Gemeinden von vornherein keinen Gewinn erwarten konnten, aber das Risiko des Verlustes tragen und auf den (teilweise ungewissen) Zuschuss warten mussten. Dies sei wirtschaftlich nicht tragbar und entspreche nicht der Vorgehensweise eines Unternehmers.

Damit schied auch der Vorsteuerabzug aus von den Gemeinden bezogenen Eingangsleistungen aus.

Bedeutung für die Praxis

Während bislang nur symbolische Entgelte mit einer Asymmetrie zwischen Einnahmen und Kosten ein Thema waren, zieht der EuGH den Kreis der problematischen Fälle nun weiter und stellt alle defizitären Geschäfte auf den Prüfstand. Da Gemeinden sehr häufig nicht kostendeckend arbeiten, weil das Gemeinwohl im Vordergrund steht, sind sie von dieser Rechtsprechung besonders betroffen und sollten diese Tätigkeiten sorgfältig prüfen. Soweit noch möglich, kann eine verbindliche Auskunft ratsam sein.

Dabei ist zu bedenken, dass sich der EuGH in den beiden polnischen Fällen stark von zwei Sachverhaltsdetails hat leiten lassen, die nicht in allen Fällen defizitärer gemeindlicher Tätigkeiten vorliegen werden: dass sich die Gemeinden der Zuschüsse nicht völlig sicher sein konnten und auf sie warten mussten und dass die Tätigkeit nicht auf Wiederholung angelegt war. Ob die Urteile wirklich auf den eigenen Sachverhalt übertragbar sind, sollte daher in jedem Einzelfall geprüft werden. Kann die wirtschaftliche Tätigkeit nicht bejaht werden, verteuern sich die Projekte der Gemeinden, da der in der Regel bestehende Vorsteuerüberhang nicht beim Finanzamt geltend gemacht werden kann.

Stand: 25. April 2023