Kein Entgeltanspruch im staatlich verfügten allgemeinen „Lockdown“

Neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum sog. Betriebsrisiko

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass eine geringfügig Beschäftigte keinen Anspruch auf Entgeltzahlung gegen ihren Arbeitgeber (ein Bremer Handelsgeschäft für Nähmaschinen und Zubehör) für den Zeitraum hat, in dem das Geschäft aufgrund einer Allgemeinverfügung der Freien Hansestadt Bremen u. a. über das Verbot der Öffnung bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Coronavirus geschlossen sein musste. Da Kurzarbeitergeld für geringfügig Beschäftigte nicht gewährt wird, entfällt der Entgeltanspruch ersatzlos. Das BAG hat dies am 13. Oktober 2021 (Az. 5 AZR 211/21) entschieden, während die beiden Vorinstanzen der Zahlungsklage stattgegeben hatten.

Die Entscheidung ist wichtig, weil sie die bisher noch nicht höchstrichterlich geklärte Frage beantwortet, ob ein allgemein angeordneter Lockdown dem sog. Betriebsrisiko des Arbeitgebers zuzuordnen ist (m. d. F. der Entgeltzahlungspflicht, so die Vorinstanzen) oder ob der Zahlungsanspruch entfällt als Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt „treffenden Gefahrenlage“ (so die bisher veröffentlichte Pressemitteilung).

Das Urteil gibt Gelegenheit der Einordnung praxisrelevanter Fragen zur Entgeltzahlung wegen des vom Arbeitgeber zu tragenden Betriebsrisikos:

„Ohne Arbeit kein Lohn“ – dieser arbeitsrechtliche Grundsatz wird durch diverse gesetzliche Entgeltfortzahlungspflichten des Arbeitgebers durchbrochen (man denke an die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall). § 615 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) regelt die Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko.

Wann muss der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls tragen (§ 615 Satz 3 BGB)? Hier ist zwischen den einzelnen Risikobereichen der Arbeitsvertragsparteien zu unterscheiden.

Das Wirtschaftsrisiko trägt der Arbeitgeber. Trotz Auftrags- oder Absatzmangel bleibt die Arbeitsleistung möglich und der Arbeitgeber schuldet das Arbeitsentgelt, auch wenn „keine Arbeit da ist“. Er muss dann ggf. Personal entlassen.

Dagegen trägt der Arbeitnehmer das sog. Wegerisiko, also das Risiko, zum Betrieb als Erfüllungsort zu gelangen. Sein Entgeltanspruch entfällt bei Verhinderungen beispielsweise durch Ausfall öffentlicher Verkehrsmittel, witterungsbedingter Naturereignisse wie Glatteis, Straßensperren etc.

Was aber gilt bei (vorübergehender) Betriebsschließung aufgrund anderer Umstände? Zu denken ist zum einen an Unterbrechung der Strom- oder Gasversorgung, Lieferstopp von Produktionsmaterialien, Rohstoffmangel, Maschinenschäden, Werksbrand und zum anderen an Behinderungen durch extreme Witterungsverhältnisse, Unglücksfälle oder Naturkatastrophen (wie Überschwemmungen). Während in die erste Gruppe betriebstechnische Störungen gehören, also solche, die spezifisch im Betrieb des Arbeitgebers eintreten, können die anderen Störfälle als „höhere Gewalt“ angesehen werden, die sich ebenfalls auf die Betriebsmittel auswirken und eine Leistungserbringung verhindern, jedoch den Entgeltanspruch nicht beseitigen. Dies gilt auch bei behördlichen Schließungsanordnungen, die sich gerade auf den Betrieb des Arbeitgebers beziehen, also etwa bei gesundheits- oder aufsichtsrechtlichen Verfügungen. Dabei kommt es regelmäßig nicht auf ein Verschulden des Arbeitgebers an, sondern auf die betriebstypische Zuordnung der Leistungsstörung (sog. Betriebsrisiko).

Eine differenzierte Beurteilung erfolgt von der Rechtsprechung bei Betriebsstörungen oder Schließungen wegen Arbeitskämpfen (sog. Arbeitskampfrisiko). Hier differenziert die Rechtsprechung im Lichte des grundgesetzlichen Schutzes der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) anhand der Umstände des Einzelfalls.

In der arbeitsrechtlichen Literatur umstritten ist die Entgeltzahlungspflicht im sog. Lockdown, also bei einer behördlich angeordneten Betriebsschließung (fast) aller Betriebe einer ganzen Region und für eine bestimmte Zeit. Für die Pflicht des Arbeitgebers zur Entgeltzahlung spricht nach einer Auffassung die Versicherbarkeit solcher Risiken durch eine Betriebsschließungsversicherung. Auch das Landesarbeitsgericht Niedersachsen, die Vorinstanz, hat den Entgeltanspruch bejaht: Auch wenn mit einer solchen behördlichen Anordnung eine Vielzahl von Arbeitgebern betroffen seien, realisiere sich doch die Störung auf der Ebene der arbeitsvertraglichen Risikozuweisung beim Arbeitgeber. Das hat das BAG nun anders gesehen. Zwar liegen die schriftlichen Urteilsgründe noch nicht vor, aber das BAG argumentiert wohl, dass sich bei einer solchen Anordnung für ein Bundesland zum Schutz der Bevölkerung vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko realisiere. Der hoheitliche Eingriff schaffe die Grundlage dafür, dass auch der Staat für einen adäquaten Ausgleich Sorge zu tragen habe, nicht der Arbeitgeber.

Praxishinweise

  • Der Arbeitgeber behält die Entgeltzahlungspflicht, wenn sich die Leistungsstörung als sein Betriebsrisiko realisiert.
  • Nach der neuesten BAG-Rechtsprechung trägt er jedoch nicht das Risiko des Arbeitsausfalls bei staatlich angeordneten, flächendeckenden Schließungen in der Pandemie.
  • Störungen durch „höhere Gewalt“ oder staatliche Verfügungen können entweder durch Pandemiegeschehen oder extreme Wetterverhältnisse vermehrt auftreten, sodass Arbeitgeber gleichwohl sorgfältig ihren Versicherungsschutz prüfen sollten.

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Autorin

Tatjana Ellerbrock
Tel: +49 30 208 88 1440

   

Dies ist ein Beitrag aus unserem Newsletter „Menschen im Unternehmen“ 2-2021. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.