Direktanspruch: EuGH-Urteil „Michael Schütte“ vom 7. September 2023, C-453/22

Kann der Leistungsempfänger zu Unrecht gezahlte Umsatzsteuer vom Leistenden nicht zurückerlangen, kommt, basierend auf der „Reemtsma“-Rechtsprechung des EuGH, unter Umständen ein Direktanspruch gegen das Finanzamt in Betracht. Auf Vorlage des FG Münster hat sich der EuGH nun mit weiteren Detailfragen auseinandergesetzt – mit einem positiven Ergebnis für Betroffene.

Sachverhalt: Umsatzsteuerausweis zu hoch, Rückforderungsanspruch verjährt

Ein Land- und Forstwirt hatte von verschiedenen Lieferanten Holz erworben, um es als Brennholz weiterzuverkaufen. Die Eingangsrechnungen wiesen 19 % Umsatzsteuer aus, die der Land- und Forstwirt als Vorsteuer geltend machte. Auf eine Betriebsprüfung folgte ein Gerichtsverfahren vor dem FG Münster, mit dem Ergebnis, dass diese Eingangsrechnungen nur 7 % Umsatzsteuer hätten ausweisen dürfen. Der Vorsteuerabzug des Land- und Forstwirts wurde entsprechend gekürzt und das Finanzamt forderte die Umsatzsteuer auf die Differenz zuzüglich Zinsen nach.

Der Land- und Forstwirt bemühte sich bei seinen Lieferanten um die Erstattung der überzahlten Umsatzsteuer; diese erhoben allerdings die Einrede der zivilrechtlichen Verjährung.

Daraufhin beantragte der Land- und Forstwirt beim Finanzamt den Erlass der Umsatzsteuernachforderung und der Zinsen aus Billigkeitsgründen nach §§ 163 und 227 AO (sog. Direktanspruch oder Reemtsma-Anspruch). Das Finanzamt wies den Erlassantrag ab und argumentierte, der Land- und Forstwirt sei für die Situation selbst verantwortlich, da er es versäumt habe, die Verjährung durch die Erhebung einer Klage gegen die Lieferanten oder durch die Vereinbarung eines Verzichts auf die Einrede der Verjährung zu hemmen.

Das FG Münster legte den Fall daraufhin dem EuGH vor.

Vorlagefragen und EuGH-Entscheidung

Der EuGH stellte zunächst klar, dass ein Direktanspruch bestehe, wenn die Erlangung der Erstattung vom Leistenden unmöglich oder übermäßig schwierig ist, und dass der bisher entschiedene Fall der Insolvenz nur einer von mehreren denkbaren Anwendungsfällen sei. Demnach komme ein Direktanspruch auch dann in Betracht, wenn der Leistende die Einrede der Verjährung erhebt. Voraussetzung sei, dass dem Betroffenen weder Betrug noch Missbrauch noch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden könne – so ergibt es sich jedenfalls aus dem Tenor. An anderer Stelle führt der EuGH hingegen aus, die Versagung der Erstattung sei sogar dann unangemessen, wenn der Steuerpflichtige nachweislich fahrlässig gehandelt habe. Was dies im Hinblick auf das Versäumnis des Land- und Forstwirts bedeutet, die Verjährung aktiv zu hemmen, ist nicht ganz eindeutig: Der EuGH stellt nicht ausdrücklich klar, ob dies als fahrlässiges Verhalten anzusehen ist und ob diese Fahrlässigkeit den Direktanspruch ausschließt. Dass der EuGH dem FG Münster als vorlegendem Gericht nicht aufgibt, eine etwaige Fahrlässigkeit zu prüfen, kann aber wohl dahin gehend verstanden werden, dass das Versäumnis, die Verjährung zu hemmen, hier unbeachtlich ist.

Das FG Münster wollte darüber hinaus wissen, ob der Leistungsempfänger einen Direktanspruch geltend machen kann, solange der Leistende den unrichtigen Steuerausweis in der Rechnung noch nach § 14c Abs. 1 i. V. m. § 17 UStG berichtigen kann. Dann drohe nämlich eine doppelte Inanspruchnahme des Finanzamtes – zum einen durch Berichtigung der Bemessungsgrundlage nach § 14c Abs. 1 i. V. m. § 17 UStG und anschließende Rückerstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer und zum anderen im Rahmen des Direktanspruchs. Diese Frage ist besonders interessant, da das BMF mit Schreiben vom 12. April 2022 einen Direktanspruch für diesen Fall ausgeschlossen hatte (wir berichteten hier). Damit läuft der Direktanspruch aber weitgehend ins Leere, weil der Leistende die Korrektur nach § 17 UStG zeitlich unbeschränkt vornehmen kann. Der EuGH entschied dazu: Eine doppelte Inanspruchnahme des Finanzamtes ist gar nicht möglich, denn wenn der Leistende die Einrede der Verjährung erhoben hat, hat er klar zu erkennen gegeben, dass er kein Interesse an der Berichtigung hat. Ein Antrag an das Finanzamt auf Erstattung würde dann nur der Erlangung eines neutralitätswidrigen Steuervorteils dienen und wäre missbräuchlich.

Das FG Münster hatte zudem gefragt, ob dem Land- und Forstwirt im Rahmen des Direktanspruchs neben der Steuer auch die festgesetzten Zinsen zu erlassen seien. Hieran hatte das Gericht Zweifel, weil diese Zinsen für einen Zeitraum vor der Geltendmachung des Direktanspruchs entstanden seien. Der EuGH bejahte die Frage jedoch. Er wies zudem darauf hin, dass der Land- und Forstwirt Anspruch auf Zinsen hat, wenn das Finanzamt den zu Unrecht erhobenen Betrag nicht innerhalb einer angemessenen Frist zurückzahlt.

Einordnung

Eine große Erleichterung ist, dass Betroffene nach diesem Urteil einen Direktanspruch geltend machen können, auch wenn der Leistende die Rechnung noch ändern kann. Das BMF-Schreiben vom 12. April 2022, das dies ausschloss, ist nicht mehr haltbar und muss geändert werden. Damit ergibt sich für den Direktanspruch ein deutlich größerer Anwendungsbereich.

Zu begrüßen ist auch die Klarstellung, dass die Insolvenz des Leistenden nicht der einzige Fall ist, für den die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs gegenüber dem Leistenden als übermäßig schwierig anzusehen ist.

Die Aussage des Gerichts zu der Frage, ob ein Direktanspruch auch geltend gemacht werden kann, wenn der Leistungsempfänger die Verjährung des Rückzahlungsanspruchs gegen den Leistenden nicht aktiv gehemmt hat, ist leider nicht so eindeutig ausgefallen wie erhofft. Betroffene sind gut beraten, die Verjährung sicherheitshalber durch Erhebung einer Klage gegen den Leistenden zu hemmen, sollte der Leistende nicht auf die Einrede der Verjährung verzichten. Wenn dies versäumt wurde, bietet das vorliegende Urteil aber dennoch eine Argumentationsgrundlage dafür, dass das Versäumnis unschädlich ist – entgegen der anderslautenden Beschränkung des Direktanspruchs im BMF-Schreiben vom 12. April 2022.

Stand: 27.09.2023

Autorin

Nadia Schulte
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