BFH zum steuerlichen Einlagekonto

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seinem Urteil vom 30. September 2020 – I R 12/17 – entschieden, dass der Bestand des steuerlichen Einlagekontos eines nicht von der Körperschaftsteuer befreiten Betriebes gewerblicher Art (BgA) nach § 27 Abs. 7 i. V. m. § 27 Abs. 2 KStG weder an die Gewinnermittlungsart noch an das Überschreiten der jeweiligen Betragsgrenzen des § 20 Abs. 1 Nr. 10 b EStG gebunden ist. Damit hob er das Urteil der Vorinstanz (Sächsisches Finanzgericht vom 1. Februar 2017 – 2 K 1059/16) auf.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin und Revisionsbeklagte war eine Gemeinde, die einen BgA Trinkwasserversorgung unterhielt. Dieser ermittelte seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG und überschritt bis einschließlich 2010 die in § 20 Abs. 1 Nr. 10 b Satz 1 EStG genannten Betragsgrenzen nicht. Im Wirtschaftsjahr 2011 erzielte der BgA einen Gewinn von 35.416 €.

Für den BgA lagen für die Veranlagungszeiträume 2002 bis 2006 bestandskräftige Bescheide zum jeweils 31. Dezember der betreffenden Veranlagungszeiträume über die gesonderte Feststellung des steuerlichen Einlagekontos vor. Das steuerliche Einlagekonto wurde jeweils mit 0 € festgestellt. Für die Feststellungszeitpunkte der Veranlagungszeiträume 2007 bis 2010 erfolgten keine Feststellungen.

Zum 31. Dezember 2011 erklärte der BgA ein steuerliches Einlagekonto in Höhe von 2.896.671 €. Das Finanzamt stellte hingegen ein Einlagekonto in Höhe von 223.476 € fest. Dabei legte es den letzten vorhandenen Feststellungsbescheid aus 2006 zugrunde, addierte die zwischenzeitlich angefallenen Verluste und zog den Gewinn aus 2011 ab.

Nach erfolgreicher Klage der Gemeinde vor dem Sächsischen Finanzgericht hatte der BFH in dem Revisionsverfahren die folgenden drei Rechtsfragen zu entscheiden.

  1. Kann der Bescheid über die gesonderte Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum 31. Dezember 2006 Grundlagenfunktion für die Feststellung zum 31. Dezember 2011 entfalten?
  2. Ist § 181 Abs. 5 AO anwendbar, um die entstandene Lücke zu schließen?
  3. Wie ist der Anfangsbestand des steuerlichen Einlagekontos zum 1. Januar 2011 des bereits vor dem Systemwechsels bestehenden und nicht von der Körperschaftsteuer befreiten BgA zu ermitteln?

Der BFH entschied, kurz zusammengefasst, wie folgt:

  1. Der Bescheid über die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos hat Grundlagenfunktion hinsichtlich der Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum Schluss des folgenden Wirtschaftsjahres. Die Grundlagenfunktion kann nicht darüber hinaus ausgedehnt werden (Fortführung der Rechtsprechung). Für unser Verfahren heißt das: Der Bescheid zum 31. Dezember 2006 kann nicht Grundlagenbescheid für den Bescheid zum 31. Dezember 2011 sein.
  2. Die vorhandene Lücke kann gemäß § 181 Abs. 5 AO geschlossen werden. Der BFH begründet dies mit dem Wortlaut des § 27 Abs. 7 KStG. Dieser regelt die sinngemäße Anwendung der Vorschriften des § 27 Abs. 1 bis 6 KStG für unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaften und Personenvereinigungen, die Leistungen im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 1, 9 oder – wie in dem Urteilsfall Nr. 10 EStG – gewähren können. Unstrittig kann ein unbeschränkt steuerpflichtiger BgA solche Leistungen (im Wesentlichen offene und verdeckte Gewinnausschüttungen) jederzeit gewähren. Dabei spielt es keine Rolle, ob er seinen Gewinn nach § 4 Abs. 1 EStG oder § 4 Abs. 3 EStG ermittelt oder wie hoch sein Gewinn ist; vGA können selbst in Verlustjahren gewährt werden. Daher ist die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos nach § 27 KStG eben gerade nicht an das Überschreiten der Grenzen von § 20 Abs. 1 Nr. 10b EStG gebunden (sachlich-abstrakte Betrachtung). Nur auf diese Weise kann der Wille des Gesetzgebers umgesetzt werden, der auf eine lückenlose Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zielt. Feststellungsunterbrechungen wie etwa durch Unterschreiten der Grenzen des § 20 Abs. 1 Nr. 10b EStG würden dem zuwiderlaufen.

Die sachlich-abstrakte Sichtweise führt indes lt. Urteilsbegründung nicht zu einer generellen nachträglichen Feststellungspflicht. Nachträgliche Feststellungen sind nur anlassbezogen, wie bei Überschreiten der in § 20 Abs. 1 Nr. 10 b EStG genannten Betragsgrenzen, zu treffen.

  1. Der BFH hat das Verfahren mit der Maßgabe an das Sächsische FG zurückverwiesen, das Verfahren auszusetzen, bis die fehlenden Feststellungsbescheide auf den jeweils 31. Dezember der Jahre 2007 bis 2010 vorliegen. Erst dann kann über die Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids geurteilt werden.

Auswirkungen auf die Praxis:

Aus der sachlich-abstrakten Sichtweise des BFH resultiert u. E. somit nunmehr auch für nicht von der Körperschaftsteuer befreite BgA ohne eigene Rechtspersönlichkeit, die ihren Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermitteln und die Gewinn- bzw. Umsatzgrenzen des § 20 Abs. 1 Nr. 10 b EStG nicht überschreiten, eine generelle jährliche Erklärungs- und Feststellungspflicht für das steuerliche Einlagekonto. Bei vollumfänglicher Übernahme der höchstrichterlichen Rechtsprechung in die allgemeine Veranlagungspraxis wären für alle Veranlagungszeiträume, für die noch keine Veranlagung zur Körperschaftsteuer erfolgte, durch die Steuerpflichtigen entsprechende Erklärungen einzureichen und der Bestand des steuerlichen Einlagekontos durch die Finanzverwaltung zu jedem Stichtag festzustellen. Sofern in der Vergangenheit die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zu einzelnen Stichtagen (gesetzeswidrig) nicht vorgenommen wurden, ist diese „Lücke“ nicht generell nachträglich zu schließen. Vielmehr ist die Schließung einer entstandenen „Lücke“ nur dann durch nachträgliche Feststellungsbescheide vorzunehmen, wenn dafür ein Anlass wie das Überschreiten der in § 20 Abs.1 Nr. 10 b EStG genannten Betragsgrenzen vorliegt.

In diesem Zusammenhang erinnern wir an das in der Praxis weiterhin bestehende und umstrittene Thema der Ermittlung des korrekten Anfangsbestands des steuerlichen Einlagekontos bei dessen erstmaliger Feststellung.

Die sachlich-abstrakte Betrachtung des BFH entspricht nicht der bisherigen Sichtweise der Finanzverwaltung. Diese vertritt ausweislich des Wortlauts in Rz. 46 der BMF-Schreiben vom 9. Januar 2015 und 28. Januar 2019 die Auffassung, dass ein steuerliches Einlagekonto bei nicht von der Körperschaftsteuer befreiten BgA ohne eigene Rechtspersönlichkeit nicht verpflichtend zu führen ist, sofern dieser die Betragsgrenzen des § 20 Abs. 1 Nr. 10 b EStG nicht überschreitet und keine entsprechenden Rücklagen vorliegen.

Ebenso wird die Auslegung von § 27 Abs. 7 KStG in der Literatur kontrovers diskutiert (entgegen BFH z. B.: Blümich/Oellerich, § 27 KStG Rz 75c; Endert in Frotscher/Drüen, KStG/GewStG/UmwStG, § 27 KStG Rz 259; Bauschautz in Gosch, KStG, 4. Aufl., § 27 Rz 132). Auch die bisherige Rechtsprechung der Finanzgerichte zeigt sich uneinig (entgegen Vorinstanz: FG Köln vom 14. Januar 2010 – 13 K 3157/05).

Über den Ausgang des Verfahrens im zweiten Rechtsgang werden wir Sie selbstverständlich informieren.