Zinssatz von 0,5 % pro Monat für Steuernachzahlungen/-erstattungen ist verfassungswidrig

20.08.2021 – Mit Beschluss vom 8. Juli 2021, veröffentlicht am 18. August 2021, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden: Ein Zinssatz von 0,5 % pro Monat für Steuernachforderungen verstößt gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung, weil er Steuerpflichtige, deren Steuer erst spät festgesetzt wird, gegenüber anderen Steuerpflichtigen benachteiligt. Der Gesetzgeber muss bis zum 31. Juli 2022 eine rückwirkende Neuregelung für Verzinsungszeiträume ab 2019 treffen.

Bislang: Niedrigzinsniveau betrifft alle, nur nicht das Finanzamt

Steuerprüfungen führen häufig dazu, dass Steuern für mehrere Jahre zurückliegende Veranlagungszeiträume nachgezahlt werden müssen. Nach einer 15-monatigen Karenzzeit fallen hier Zinsen von 0,5 % pro (vollem) Monat an, also 6 % pro Jahr. Bereits im Jahr 2018 hat der Bundesfinanzhof ausgesprochen, was Steuerpflichtige schon lange geärgert hat: Ob 6 % Zinsen im Jahr angemessen sind, ist angesichts des anhaltenden Niedrigzinsniveaus am Kapitalmarkt zweifelhaft. Der Gedanke des Gesetzgebers hinter der Verzinsung ist, dass ein Steuerpflichtiger, der seine Steuern erst Jahre später bezahlen muss, gegenüber anderen im Vorteil ist, weil er mit dem nicht bezahlten Steuerbetrag wirtschaften kann. Diesen Vorteil soll der Staat abschöpfen können. Da aber am Markt schon sehr lange keine Zinsen von 6 % mehr zu erzielen sind, schöpft der Staat hier einen Vorteil ab, der so nicht mehr besteht.

BVerfG entscheidet: Zinshöhe muss sich an der wirtschaftlichen Realität messen lassen

Auf eine Verfassungsbeschwerde zweier Steuerpflichtiger hat das BVerfG nun das erlösende Wort gesprochen: § 233a i. V. m. § 238 AO, die die Nachzahlungs- und Erstattungszinsen regeln, sind wegen des überhöhten Zinssatzes mit dem Grundgesetz unvereinbar. Dabei setzt sich das Gericht eingehend mit der Zinsentwicklung am Kapitalmarkt auseinander und kommt zu dem Schluss, der Zinssatz sei jedenfalls für Verzinsungszeiträume (nicht Besteuerungszeiträume!) ab 2014 überhöht. Allerdings seien die genannten Vorschriften der AO nicht nichtig, sondern lediglich mit dem Grundgesetz unvereinbar. Das BVerfG ordnet an, dass sie für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 fortgelten sollen. Diese Vorgehensweise scheint im Wesentlichen haushaltspolitischen Gründen sowie der Verwaltungsökonomie geschuldet zu sein.

Der Gesetzgeber wird verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, die rückwirkend für Verzinsungszeiträume ab 2019 gilt. Eine typisierende Regelung mit einem starren, aber realitätsgerechten Zinssatz hält das BVerG dabei nicht grundsätzlich für problematisch – teilweise war im Laufe des Verfahrens von Beteiligten argumentiert worden, der Zinssatz müsse sich dynamisch an die Marktentwicklung anpassen. Interessant ist, dass nach Auffassung des BVerfG angesichts der aktuell von Banken erhobenen Negativzinsen sogar ein Verzicht auf die Vollverzinsung denkbar wäre. Die Bedeutung der Zinseinnahmen für den Staatshaushalt lässt dies aber unwahrscheinlich erscheinen.

Die Entscheidung des BVerfG gilt nicht nur für Nachzahlungszinsen des Steuerpflichtigen, sondern auch für Erstattungszinsen des Finanzamts, weil der Gesetzgeber hier ein einheitliches Regelungskonzept verfolgt habe. Sie gilt für alle Steuerarten (= Grds. der Vollverzinsung).

Achtung: Nicht von der Verfassungswidrigkeit erfasst sind Stundungszinsen, Hinterziehungszinsen und Aussetzungszinsen. Grund dafür ist nach den Ausführungen des BVerfG, dass der Steuerpflichtige es hier in der Hand habe, ob er den Steuerbetrag erst später zahlt und damit Zinsen anfallen. Ferner sei darauf hingewiesen, dass noch ein weiteres Verfahren hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit des 6 %igen Abzinsungssatzes von Pensionsrückstellungen für steuerbilanzielle Zwecke beim BVerfG anhängig ist (Az. 2 BvL 22/17).

Was bedeutet das für Ihren Zinsbescheid?

2018 hat das Bundesfinanzministerium (BMF) angeordnet, dass Zinsbescheide (für Verzinsungszeiträume ab 1. Januar 2012) wegen der Unsicherheit über die Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe nur noch mit einem Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO erlassen werden dürfen. Sobald die Unsicherheit beseitigt ist, kann und muss das Finanzamt den Zinsbescheid ändern. 2019 hat das BMF zudem angeordnet, dass bei Einsprüchen gegen (noch nicht vorläufig gestellte) Zinsbescheide auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung nach § 361 AO zu gewähren ist. Diese bewirkt, dass die Zinsen nicht bezahlt werden müssen, solange über den Einspruch nicht entschieden ist. Außerdem ruht das Verfahren gem. § 363 Abs. 2 S. 2 AO, bis die Frage der Zinshöhe geklärt ist.

Unseres Erachtens lassen sich folgende Kategorien unterscheiden, wobei zu beachten ist, dass ein einzelner Zinsbescheid sowohl Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 als auch nachfolgende Verzinsungszeiträume (sowie Nachforderungs- und Erstattungszinsen) umfassen kann.

  1. Bereits erlassene Bescheide für Nachzahlungszinsen für Verzinsungszeiträume bis 2018
    Soweit diese Bescheide mit Blick auf die mögliche Verfassungswidrigkeit vorläufig ergangen sind, werden die Finanzämter diese Vorläufigkeitsvermerke nun nach und nach aufheben. Wurde kein Einspruch eingelegt, bleibt es bei den bereits bezahlten Zinsen. Läuft noch ein Einspruchsverfahren, wird das Finanzamt eine abschlägige Einspruchsentscheidung erlassen oder der Einspruch kann zurückgenommen werden. Die Aussetzung endet, die Zinsen müssen in Höhe von 0,5 % pro Monat bezahlt werden.
  2. Bereits erlassene Bescheide für Nachzahlungszinsen für Verzinsungszeiträume ab 2019
    Solange der Gesetzgeber noch keine Neuregelung erlassen hat, steht die Zinshöhe nicht fest, und das Finanzamt kann insoweit keine Entscheidung treffen. Folgendes ist u. E. zu erwarten: Vorläufigkeitsvermerke bleiben bis zu einer Neuregelung, d. h. längstens bis zum 31. Juli 2022, bestehen. Einsprüche ruhen weiterhin, und die Vollziehung bleibt ausgesetzt, wenn dies beantragt wurde. Wenn eine Neuregelung vorliegt, wird das Finanzamt über die Einsprüche (soweit nicht zurückgenommen) entscheiden und die Zinsen entsprechend dem neuen Zinssatz festsetzen.
  3. Zukünftige Bescheide für Nachzahlungszinsen für Verzinsungszeiträume bis 2018
    Wegen der Fortgeltungsanordnung des BVerfG darf das Finanzamt für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 weiterhin Zinsen von 0,5 % pro Monat festsetzen. Vorläufigkeitsvermerke werden insoweit nicht mehr aufgenommen. Ein Einspruch und ggf. Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gegen die Zinshöhe haben keine Aussicht auf Erfolg.
  4. Zukünftige Bescheide für Nachzahlungszinsen für Verzinsungszeiträume ab 2019
    Solange die Neuregelung nicht vorliegt, hat das Finanzamt keine Möglichkeit, eine verfassungsmäßige Zinsfestsetzung durchzuführen. Vermutlich werden die Finanzbehörden bis zum Erlass der Neuregelung von Zinsfestsetzungen absehen. Möglicherweise ist der Erlass eines Zinsbescheids mit 0,5 % pro Monat aber ein Automatismus, der nicht durchbrochen werden kann. Enthält ein dennoch erlassener Zinsbescheid einen Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO, wird das Finanzamt den Zinsbescheid von Amts wegen ändern, wenn die Neuregelung vorliegt. Fehlt der Vorläufigkeitsvermerk und/oder ist ein Zahlungsaufschub gewünscht, sollte Einspruch eingelegt und das Ruhen des Verfahrens sowie die Aussetzung der Vollziehung beantragt werden. Auf steuerliche Nebenleistungen werden keine Aussetzungszinsen nach § 237 AO erhoben, sodass insoweit kein finanzielles Risiko besteht.
  5. Bereits erlassene Bescheide für Erstattungszinsen für Verzinsungszeiträume bis 2018 und ab 2019
    Hier genießt der Steuerpflichtige unseres Erachtens Vertrauensschutz: Gem. § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO darf bei Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides (gilt auch für Zinsbescheide) nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass das BVerfG die Nichtigkeit eines Gesetzes festgestellt hat. Im Schrifttum wird vertreten, dass dies auch dann gilt, wenn das BVerfG nicht die Nichtigkeit, sondern nur die Unvereinbarkeit festgestellt hat. Auch das BVerfG selbst spricht in seinem Beschluss an, dass die Finanzämter § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO zu prüfen haben. Demnach würden dem Steuerpflichtigen die Erstattungszinsen i. H. v. 0,5 % pro Monat erhalten bleiben. Zu beachten ist die Steuerpflicht der Erstattungszinsen; u. E. sollte der Gesetzgeber die Verpflichtung zur Neuregelung zum Anlass nehmen, einen Gleichlauf insoweit mit den Nachzahlungszinsen herzustellen.
  6. Zukünftige Bescheide für Erstattungszinsen für Verzinsungszeiträume bis 2018
    Wegen der Fortgeltungsanordnung des BVerfG darf das Finanzamt für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 weiterhin Zinsen von 0,5 % pro Monat festsetzen. Vorläufigkeitsvermerke werden insoweit nicht mehr aufgenommen.
  7. Zukünftige Bescheide für Erstattungszinsen für Verzinsungszeiträume ab 2019
    Da hier kein bestehender Steuer- bzw. Zinsbescheid geändert wird, greift der Vertrauensschutz des § 176 AO nicht, d. h., der Steuerpflichtige hat keinen Anspruch auf Zinsen i. H. v. 0,5 % pro Monat. Allerdings hat auch hier das Finanzamt derzeit keine Rechtsgrundlage, um eine verfassungsgemäße Zinsfestsetzung vorzunehmen, solange die Neuregelung noch nicht erlassen wurde, sodass Zinsfestsetzungen wahrscheinlich bis zum Erlass der Neuregelung unterbleiben werden. Sollte dennoch ein Zinsbescheid ergehen, gilt das oben unter Nr. 4 Gesagte.

Für die Zinsfestsetzung auf die Gewerbesteuer kann es Abweichungen geben, da Bescheide insoweit nicht von den Finanzämtern, sondern von den Kommunen erlassen werden, für die die Anordnungen des BMF nicht unmittelbar gelten. Zwar verfahren die Gemeinden grds. entsprechend. In Einzelfällen ist bislang aber auch die Einleitung von Klageverfahren erforderlich gewesen, soweit kein „Ruhen des Verfahrens“ (über § 251 ZPO analog) bzw. keine Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 AO vorgenommen wurde.

Bei Fragen zu diesem Thema unterstützt Mazars Sie sehr gerne – wenden Sie sich einfach an Ihre gewohnte Ansprechpartnerin oder Ihren gewohnten Ansprechpartner. Auch die folgenden Ansprechpersonen stehen Ihnen gern zur Verfügung: