Ist das Konzernprivileg bei Leiharbeit europarechtswidrig?

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen befasste sich mit dem Urteil vom 12. Januar 2023 – 5 Sa 212/22 – mit der Frage, ob das Konzernprivileg bei Leiharbeit europarechtskonform auslegbar sei.

Ein unternehmensübergreifender Personaleinsatz ist bei Konzernstrukturen wie z. B. auch in Stadtwerkekonzernen und sonstigen Unternehmensgruppen der öffentlichen Hand oder im sozialen Bereich üblich, sodass die Klärung der umstrittenen Frage, ob das deutsche Konzernprivileg im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) eine europarechtskonforme Ausnahmeregelung darstellt, für die Praxis besonders relevant ist.

Das LAG räumt der nationalen Ausnahmeregelung (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG) in dem entschiedenen Fall einen Vorrang ein und hält das Privileg für anwendbar. Die Frage, ob die Regelung europarechtswidrig ist, könne ausdrücklich offenbleiben.

Konkreter Sachverhalt

Die Parteien streiten darüber, ob zwischen ihnen ein Arbeitsverhältnis besteht. Der Kläger war seit 2015 unbefristet bei einer GmbH als Bereitsteller im Bereich Logistik beschäftigt. Der Arbeitgeber und die Beklagte, zwei Konzernunternehmen, schlossen einen Vertrag über die Überlassung des Klägers an die Beklagte, bei der er als FTS-Anlagenführer beschäftigt wurde. Später schlossen die Unternehmen einen weiteren Vertrag „über die leihweise zur Verfügungstellung von Personal im Rahmen der Konzernleihe“, der den Einsatz des Klägers verlängerte. Mit seiner Klage macht er ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zur Beklagten mit der Begründung geltend, dass die Höchstüberlassungsdauer des AÜG überschritten sei. Der Kläger ist der Ansicht, dass das Konzernprivileg nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG europarechtswidrig ist und die Leiharbeitsrichtlinie keine Ausnahmen für Konzernunternehmen vorsieht.

Weder seine Klage noch die Berufung hatten vor dem Arbeitsgericht und dem LAG Erfolg und wurden stattdessen zurückgewiesen.

Entscheidung

Das LAG entschied, dass sich die Beklagte auf das Konzernprivileg des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG berufen kann. Die Tatbestandsvoraussetzungen hierfür lägen vor, da die Unternehmen konzernverbunden seien und eine Überlassungsvereinbarung getroffen hätten.

Die Richtlinie 2008/104/EG über die Leiharbeit sei nicht unmittelbar anwendbar. Ein nationales Gericht, das bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses auszulegen habe, müsse sich dabei – so weit wie möglich – am Wortlaut und Zweck einer einschlägigen Richtlinie ausrichten, um das in dieser festgelegte Ergebnis zu erreichen. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlange der Grundsatz der unionskonformen Auslegung von den nationalen Behörden – unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden – alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liege, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel in Einklang stehe.

Ermögliche es das nationale Recht, durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden eine innerstaatliche Bestimmung so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden werde, seien die nationalen Gerichte gehalten, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen. Allerdings unterliege der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Schranken. Die Pflicht zur Verwirklichung eines Richtlinienziels finde ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. Sie dürfe nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen. Der Gehalt einer nach Wortlaut, Systematik und Sinn eindeutigen Regelung könne nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung in sein Gegenteil verkehrt werden (so bereits BAG, Urteil vom 14. Oktober 2020 – 7 AZR 268/18, Rn. 67 m. w. N.).

Das Gericht geht zudem auf die strittige Frage ein, ob die Formulierung in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG „nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt und beschäftigt“, wie zum Teil im Schrifttum vertreten, einschränkend dahingehend zu verstehen ist, dass das Wort „und“ durch ein „oder“ zu ersetzen ist, ein.

Das Gericht teilt vorliegend diese enge Auslegung des Ausnahmeprivilegs nicht, da diese zu dem Ergebnis führen würde, dass jedwede Überlassung das Konzernprivileg leerlaufen ließe. Dies habe der nationale Gesetzgeber nicht gewollt. Im vorliegenden Streitfall sei die nationale Rechtsordnung stärker als das Europarecht.

Die Entscheidung ist zum Zeitpunkt unseres Redaktionsschlusses nicht rechtskräftig. Das LAG hat die Einlegung der Revision zum BAG zugelassen und der Kläger hat hiervon Gebrauch gemacht.

Praxishinweis

Ein konzerninterner unternehmensübergreifender Personaleinsatz hat oft unterschiedliche Hintergründe. Für die häufigen Fälle der Konzernleihe, die dem Sinn und Zweck des AÜG nicht widersprechen, jedenfalls ist die Entscheidung des LAG Niedersachsen im Ergebnis zu begrüßen. Es bleibt aber abzuwarten, ob das BAG dem folgt oder ob es im Rahmen eines Vorlageverfahrens den EuGH involvieren wird. Letzteres wäre jedenfalls nicht unwahrscheinlich.

In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass das BAG bereits eine Anfrage betreffend die Personalgestellung im öffentlichen Dienst nach § 4 Abs. 3 TVöD an den EuGH gestellt hat, um zu klären, ob die entsprechende Ausnahmebestimmung in § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG unter den Anwendungsbereich der Zeitarbeitsrichtlinie fällt. Ggf. ergeben sich bereits aus diesem Verfahren allgemeine Erkenntnisse für die Anwendbarkeit der Bereichsausnahmen im AÜG.

Bis dahin bleibt die Thematik schwierig. Es ist daher zu empfehlen, Personalgestellungen sowie (scheinbare) Dienstleistungsoder Werkvertragsbeziehungen zwischen Konzernunternehmen auf ihre AÜG-Konformität hin zu überprüfen und die Entwicklung der Rechtsprechung im Blick zu behalten. Hierbei unterstützen wir Sie gern.

Autorin

Marion Plesch
Tel: +49 30 208 88 1146

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 2-2023. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.