Immer wieder Inflation: ungewöhnliches Wagnis i. S. v. § 7 EU VOB/A – Stoffpreisgleitklauseln in aktuellen Bauvorhaben

Die Inflation belastet Unternehmen und Arbeitnehmer, aber auch den Staat. Das Risiko von Preissteigerungen darf der Staat aber nicht einfach auf den Auftraggeber abwälzen. Ein Verstoß gegen die Überbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses auf die Bewerber kann zur Zurückversetzung der Vergabe vor Versand der Unterlagen führen. So entschied die Vergabekammer Westfalen in einer Entscheidung vom Sommer dieses Jahres (VK Westfalen, Beschluss vom 12. Juli 2022 – 3-24/22).

Was muss man wissen?

  • Wenn das aufgebürdete Wagnis über die üblichen Risiken hinausgeht, kann gegen das Gebot des § 7 Abs. Nr. 3 EU VOB/A verstoßen worden sein.
  • Bei aktuellen Bauvorhaben sollten Auftraggeber eine Stoffpreisgleitklausel (durch Nutzung des Formulars 225) verwenden. Dies verhindert, dass weder ein Verstoß gegen § 7 Abs. 1 Nr. 3 EU VOB/A vorliegt noch dass sich Auftragnehmer auf § 313 BGB (Störung/Wegfall der Geschäftsgrundlage) berufen könnten.
  • Die Erlasse des Bundes bzw. des Landes bzgl. der Stoffpreisgleitklause haben keine bindende vergaberechtliche Wirkung. Deren Konsequenz muss jeweils im Einzelfall geprüft werden. Begehrt ein Unternehmen eine Preiseanpassung, ist es für die Darlegung der Voraussetzungen in der Pflicht.
  • Eine Markterkundung mit verbundenen Gesprächen mit den Bauunternehmen kann für Klarheit sorgen und böse Überraschungen verhindern.

Voraussetzungen

Ungewöhnlich ist ein Wagnis, wenn es

  • der in der jeweiligen Vertragsart üblichen Wagnisverteilung nicht entspricht und
  • einer vernünftigen kalkulatorischen Bewertung des Auftragnehmers nicht zugänglich ist, weil es außerhalb seiner Sphäre und Verantwortung liegt.

Dies liegt beispielsweise vor, wenn dem Auftragnehmer ungewöhnliche Wagnisse aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf Preis und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann. Risiken sind Unsicherheiten hinsichtlich leistungs- oder wertrelevanter Umstände oder Entwicklungen. Als solche sind auch sie Transaktionsobjekte. Es ist vergaberechtlich unbedenklich, dem Auftragnehmer die Verlagerung eines ungewöhnlichen Wagnisses ausdrücklich aufzuerlegen, wenn er mit einem entsprechenden Preis reagieren kann. Die Grenze ist bei einer Haftung für Zufall und höhere Gewalt, die unzumutbar lange Ausdehnung von Verjährungsfristen oder die Übernahme einer das Normalmaß übersteigende Mängelhaftung erreicht. Die Regelung dient dem Schutz des Auftragnehmers vor unangemessenen Vertragsbedingungen. Entsprechend dem Normzweck ist die Vorschrift nicht eng, sondern weit auszulegen.

Für diesen Fall sieht § 9d EU VOB/A die Möglichkeit vor, Stoff- und Lohngleitklauseln in die Vertragsunterlagen aufzunehmen. Die Norm verlangt drei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen:

  1. Es müssen Änderungen der Preise zu erwarten sein.
  2. Der Eintritt oder das Ausmaß der Änderungen muss ungewiss sein.
  3. Es muss sich um wesentliche Änderungen handeln.

Hintergrund

Ein öffentlicher Auftraggeber schrieb Rohbauarbeiten im Rahmen der Sanierung und des Neubaus eines Polizeipräsidiums aus, wofür die Angebotsfrist am 4. März 2022 endete. Ein Angebot war um etwa 20 % niedriger im Vergleich zu den anderen Angeboten und der Bewerber wurde zunächst aufgefordert, eine Erklärung zur Auskömmlichkeit abzugeben. Da die Erklärung nicht abgegeben wurde, wurde der Bewerber ausgeschlossen. Das Unternehmen rügte anschließend im Wege des Nachprüfungsverfahren, dass die aktuelle Inflation eine Angebotskalkulation ohne Preisgleitklausel unmöglich machte. Hierbei nahm es auch Bezug auf die Rundschreiben des Bundes- und Landesministeriums zur Berücksichtigung von Stoffgleitklauseln.

Die Vergabekammer folgte im Ergebnis dem Antragsteller. Eingangs legte sie dar, dass die Erlasse keine bindende vergaberechtliche Wirkung entfalten, da sie lediglich eine inneradministrativ wirkende Vorschrift darstellen. Dennoch habe die Vergabekammer dem Antragsteller ein ungewöhnliches Wagnis überbürdet. Die inflationsgetriebenen Preise – bedingt durch den Angriffskrieg auf die Ukraine – können nicht mehr kaufmännisch vernünftig prognostiziert und kalkuliert werden. Im Ergebnis wird dem Auftragnehmer das Risiko erheblicher Preissteigerungen aufgebürdet und verletzt somit das bieterschützende Gebot gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 EU VOB/A.

Ausblick

Die Unternehmer können voraussichtlich besser als die Auftraggeber beurteilen, welche Rohstoffe und Produkte von der Kostenexplosion betroffen sind. Eine Markterkundung mit verbundenen Gesprächen mit den Bauunternehmen kann hier für Klarheit sorgen. Dies verhindert, dass weder ein Verstoß gegen § 7 Abs. 1 Nr. 3 EU VOB/A vorliegt noch dass sich Auftragnehmer auf § 313 BGB (Störung/Wegfall der Geschäftsgrundlage) berufen könnten.

Bei aktuellen Bauvorhaben sollten Auftraggeber prüfen, inwieweit die Vereinbarung einer Stoffpreisgleitklausel für das konkrete Vorhaben angezeigt ist. In der Vergangenheit wurde moniert, dass das bereitgestellte Formular 225 nicht praxistauglich sei. Die Vergabekammer Westfalen setzt sich explizit mit der Praxistauglichkeit des Formulars 225 auseinander und stellt fest, dass ein „sperriges“ Formular grundsätzlich keine Übertragung eines ungewöhnlichen Wagnisses rechtfertigt.

Autorin

Noreen Völker
Tel: +49 30 208 88 1190

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 4-2022. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.