Zwingende Angabe von geschätzten Mengen sowie von verbindlichen Höchstabnahmemengen bei der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 17. Juni 2021 (Az.: C-23/20) ein Aufsehen erregendes Urteil zu der bisher umstrittenen Frage gefällt, ob öffentliche Auftraggeber bei der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen eine geschätzte Abnahmemenge bzw. einen geschätzten Wert sowie eine verbindliche Höchstabnahmemenge bzw. einen Höchstwert angeben müssen.

Nach dem Urteil des EuGH ist klar, dass beides in der Bekanntmachung angegeben werden muss. Zudem geht aus dem Urteil hervor, dass die Rahmenvereinbarung ihre Wirkung verliert, wenn die in der Bekanntmachung angegebene Höchstabnahmemenge erreicht ist. Allerdings wirft die Entscheidung neue praktische Fragen auf.

Hintergrund

Der EuGH hatte im Jahr 2018 schon einmal entschieden, dass bei der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen eine verbindliche Höchstabnahmemenge durch den öffentlichen Auftraggeber zu benennen ist (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2018 – Az.: C-216/17). Allerdings bezog sich dieses Urteil noch auf die Richtlinie 2004/18/EG, welche bereits im April 2016 außer Kraft getreten war. Deshalb war unklar, ob die Entscheidung auch in Bezug auf die Nachfolgerichtlinie 2014/24/EU gilt. Mazars hatte dazu berichtet im Newsletter Public Sector 1/2020, Seite 36.

Die Vergabekammer des Bundes vertrat in der Folge mit Beschluss vom 19. Juli 2019 (Az.: VK 1 – 39/19) die Auffassung, dass öffentliche Auftraggeber die geschätzte Abnahmemenge der auszuschreibenden Rahmenvereinbarung nur anzugeben haben, soweit dies möglich sei. In dieselbe Richtung vertrat auch das Kammergericht in Berlin mit Beschluss vom 20. März 2020 (Az.: Verg 7/19) die Auffassung, dass eine Pflicht zur Angabe einer verbindlichen Höchstabnahmemenge dem europäischen Recht nicht zu entnehmen sei. Dementgegen hat nun der EuGH die Pflicht zur Angabe von geschätzten Abnahmemengen und verbindlichen Höchstabnahmemengen bestätigt und die Unklarheit beseitigt.

Der zugrunde liegende Sachverhalt

Mit Bekanntmachung vom 30. April 2019 hatten zwei Regionen in Dänemark als öffentliche Auftraggeber eine Rahmenvereinbarung über Ausrüstung für die künstliche Ernährung häuslich versorgter Patienten und für Heime zwischen der Region Nordjütland und einem einzigen Wirtschaftsteilnehmer ausgeschrieben.

In der Ausschreibung hieß es, dass die Teilnahme der Region Süddänemark „optional“ sei und dass Angebote für „alle Positionen des Vertrags“ abgegeben werden müssten. Im Übrigen enthielt die Auftragsbekanntmachung weder Angaben zum geschätzten Wert der Beschaffung der Rahmenvereinbarung für die Region Nordjütland oder der Option der Region Süddänemark noch zum Höchstwert der Rahmenvereinbarungen oder zur geschätzten Menge oder Höchstmenge der nach den Rahmenvereinbarungen zu beschaffenden Waren.

Wie sich aus den Vergabeunterlagen ergab, waren die „angegebenen Schätzungen und erwarteten Verbrauchsmengen lediglich Ausdruck der Erwartung des Auftraggebers hinsichtlich des Verbrauchs der Leistungen […], die vom ausgeschriebenen Auftrag umfasst sind. Der Auftraggeber verpflichtet sich somit nicht, eine bestimmte Menge an Leistungen abzunehmen oder für einen bestimmten Betrag auf der Grundlage der Rahmenvereinbarung einzukaufen. Der tatsächliche Verbrauch kann sich mit anderen Worten als höher oder niedriger erweisen als in den Schätzungen angegeben.“

Auch sollte die Rahmenvereinbarung nicht exklusiv sein; der Auftraggeber durfte im Einklang mit den Vergabevorschriften ähnliche Waren von anderen Lieferanten beziehen.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH erachtet diese Gestaltung als unzulässig. Er leitet in seiner Entscheidung aus den Grundsätzen der Gleichbehandlung, der Nichtdiskriminierung und der Transparenz die Verpflichtung öffentlicher Auftraggeber zur Angabe der geschätzten Abnahmemenge bei der ausgeschriebenen Rahmenvereinbarung her. Aus denselben Grundsätzen folgt nach Ansicht des Gerichtshofes zudem die Verpflichtung öffentlicher Auftraggeber, auch eine verbindliche Höchstabnahmemenge in der Bekanntmachung anzugeben.

Der Gerichtshof führt dazu aus:

„Sowohl die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung als auch der daraus folgende Grundsatz der Transparenz verlangen, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen klar, genau und eindeutig formuliert sind, damit, erstens, alle durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt ihre genaue Bedeutung verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und, zweitens, der öffentliche Auftraggeber imstande ist, tatsächlich zu überprüfen, ob die Angebote der Bieter die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen.“

Bemerkenswert ist, dass der EuGH ausdrücklich formuliert, dass die Rahmenvereinbarung „ihre Wirkung verliert“, wenn die Höchstabnahmemenge erreicht ist. Dies begründet der Gerichtshof im Wesentlichen mit der Selbstbindung der öffentlichen Auftraggeber an den Inhalt der Bekanntmachung und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Andernfalls könne das Instrument der Rahmenvereinbarung missbräuchlich oder in einer Weise angewendet werden, durch die der Wettbewerb behindert, eingeschränkt oder verfälscht werde.

Praktische Auswirkungen

Mit der „verbindlichen Höchstabnahmemenge“ geht keine entsprechende Abnahmeverpflichtung des öffentlichen Auftraggebers einher. Er kann weiterhin Rahmenvereinbarungen ohne „Mindestabnahmeverpflichtung“ abschließen. Die Höchstabnahmemenge stellt nur die obere Grenze der möglichen Beauftragung aus der Rahmenvereinbarung dar.

Durch die Entscheidung hat der EuGH einerseits die kontroverse Diskussion über die Erforderlichkeit der Angabe von geschätzten Abnahmemengen und Höchstabnahmemengen bei Rahmenvereinbarungen beendet.

Andererseits wirft die Entscheidung tiefgreifende praktische Fragen auf. Besonders der Aspekt, dass die Rahmenvereinbarung mit Erreichen der Höchstmenge „ihre Wirkung verliert“ lässt offen, wie sich das Urteil in der Praxis auf Auftragsänderungen gemäß § 132 GWB und das Missbrauchsverbot gemäß § 21 Abs. 1 Satz 3 VgV auswirkt. Außerdem wird die Frage zu beantworten sein, inwieweit die Entscheidung auch für die Sektorenvergaberichtlinie Anwendung findet.

Praktische Gestaltungsmöglichkeiten, um diesbezüglichen Unwägbarkeiten zu begegnen, bedürfen einer vertieften rechtlichen Prüfung. Dabei sind die Gesamtumstände von geplanten Rahmenvereinbarungen vorab einzubeziehen. Denn nach dem neuen Urteil ist es für öffentliche Auftraggeber besonders wichtig, frühzeitig alle Eventualitäten bei der Gestaltung von Rahmenvereinbarungen angemessen zu berücksichtigen.

Autor*innen

Noreen Völker
Tel: +49 30 208 88 1190

Leo Lerch
Tel: +49 30 208 88 1514

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 3-2021. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.