Sich neu erfinden im ditigalen Zeitalter – ein Gespräch mit Charles Handy

von Mazars @MazarsGroup, am 2. Februar 2016
Charles Handy, von seinen Kollegen oft als “Guru der Gurus” bezeichnet, gilt als einer der renommiertesten Denker zum Thema Management unserer Zeit und ist Autor von mehr als zwanzig Büchern. Andrew Hill, Chefredakteur der Financial Times, sagte einmal: „Handys Fähigkeit, Dinge Jahrzehnte im Vorhinein zu sehen, gibt ihm das Recht zu gedanklichen Spielereien. Angesichts seiner Treffsicherheit wird sicherlich niemand dagegen wetten, dass einige seiner radikalen Ideen wahr werden.“

Philippe Castagnac: Lieber Charles, zu Beginn dieses Interviews möchte ich Sie gerne etwas fragen: Beim Global Drucker Forum, das kürzlich stattgefunden und Mazars wie immer unterstützt hat, haben Sie gesagt: „Gespräche schaffen Vertrauen“. Kann ich unser … Gespräch damit beginnen.

Charles Handy: Das Thema und, wie ich finde, auch das Ziel der Jahreskonferenz des Global Drucker Forums lautete: „Claiming Our Humanity“. Ähnlich wie Peter Drucker seinerzeit haben wir uns versucht vorzustellen,welche Art von Neubeginn der Sprung ins digitale Zeitalter für uns Menschen bedeutet und wie wir ihn erfolgreich nutzen können – und zwar nicht nur in technologischer und wirtschaftlicher, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Beispielsweise fördern bessere Kommunikationsmöglichkeiten und die einfachere Kontaktaufnahme Gespräche, die wiederum nötig sind, um Vertrauen aufzubauen. Steve Jobs ist ein berühmtes Beispiel. Er ging mit seinen Gästen spazieren, um mit ihnen zu sprechen. Ich mache das genauso.

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Lange vor der Veröffentlichung von „The Second Curve“ im Jahr 2015 äußerte Charles Handy die Idee, dass sich Menschen und Unternehmen auf die zweite Etappe ihrer Entwicklungsreise vorbereiten sollten bevor die erste Phase beendet  ist.

Laurent Choain: Die Fortbewegung scheint ein immer wiederkehrendes Thema in Ihrer Arbeit zu sein. In Ihrem letzten Buch „The Second Curve“ führen Sie dieses Konzept ein mit einer unterhaltsamen und sehr aufschlussreichen Anekdote. Nämlich mit dem Weg zu Davy’s Bar …

C. Handy: Die Wicklow Mountains liegen ganz in der Nähe von Dublin in Irland. Das ist eine Gegend unberührter Schönheit und ich kehre so oft ich kann dorthin zurück. Die Straßen sind nicht beschildert und ich verirre mich nach wie vor regelmäßig. Einmal hielt ich an und fragte nach dem Weg. „Klar, das ist ganz einfach“, erklärte mir ein Einheimischer, „fahren Sie einfach weiter auf dieser Straße, immer geradeaus, und nach einiger Zeit überqueren Sie eine kleine Brücke, auf der anderen Seite sehen Sie Davy’s Bar. Sie können sie nicht verfehlen!“ „Okay, ich verstehe, geradeaus bis zu Davy’sBar“, sagte ich. „Ja, genau. Und eine halbe Meile davor biegen Sie rechts ab und fahren den Hügel hinauf.“ Bis ich erkannte, dass diese Logik keinen Sinn ergab, war er auch schon verschwunden. Während ich überlegte, welche Abzweigung ich auf dem Weg zu Davy’s Bar wohl nehmen sollte, dachte ich, dass mir der Mann gerade ein anschauliches Beispiel für ein Paradoxon geliefert hatte. Vielleicht sogar das Paradoxon unserer Zeit schlechthin: Sobald man endlich weiß, wo das Ziel ist, ist es zu spät, um dorthin zu gelangen. Oder dramatischer ausgedrückt: Wenn man weiter auf seinem Pfad bleibt, verpasst man den Weg in die Zukunft. Wenn man glaubt, dass der Weg in die Zukunft eine Fortsetzung der Straße ist, auf der man bereits unterwegs ist, kann es passieren, dass man in Davy’s Bar landet. Dort hat man keine andere Möglichkeit mehr, als seine Sorgen in Bier zu ertränken und über die Vergangenheit nachzudenken. Nach Ihrer Erzählung zu urteilen, denke ich, dass Mazars eine zweite Abzweigung genommen hat, als es vor 20 Jahren überraschenderweise zu einer internationalen und integrierten Organisation wurde. Doch die entscheidende Frage für Sie ist jetzt: Wann kommt der nächste Wendepunkt, was ist Ihre nächste Kurve?

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Philippe Castagnac ist Chairman und CEO von Mazars. Er leitet die weltweite Strategie der Gruppe durch die Koordination des Group Executive Board (GEB)

P. Castagnac: Ich war erstaunt, wie schnell Sie unseren Hintergrund, unsere aktuelle Situation und einige der zentralen Entscheidungen erkannt haben. Obwohl ich nie nach schnellen Antworten suche, würde ich wirklich gerne von Ihnen erfahren,wie Sie unsere nächste Kurve sehen.

C. Handy: Anscheinend hat Mazars bei seiner Entscheidungsfindung erfolgreich ein intelligentes Prinzip berücksichtigt, nämlich das, was ich den Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Fragestellungen nenne. Eine geschlossene Fragestellung ist: „Wie fahre ich nach Peking?“. Eine offene  dagegen ist: „Warum fahre ich nach Peking?“ Der Umgang mit offenen Fragestellungen erfordert Agilität und Verständnis.Wenn Sie Ihre nächste Kurve erkennen möchten, müssen Sie an offen gestellte Fragen denken, nicht an geschlossene Fragen mit bekannten Antworten, die Sie für den Rest Ihres Lebens zu einigen Bieren in Davy’s Bar führen.

L. Choain: In unserer Branche kann man seinen Kunden entweder Dienstleistungen als Wirtschaftsprüfer oder als Steuerberater anbieten, wegen offenkundiger Interessenkonflikte geht nicht beides. Aufgrund der Bedeutung von Mehrwert in Verbindung mit dem Angebot von Wirtschaftsprüfungsleistungen für Unternehmen von öffentlichem Interesse sowie des steigenden Honorardrucks und stärkerer rechtlicher Einschränkungen verschärft sich das Dilemma zwischen der Tätigkeit eines Wirtschaftsprüfers und der eines Beraters weiter.

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Als Chief People and Communications Officer von Mazars ist Laurent Choain für die Globalisierung des Talentmanagements und die Innovation durch fortschrittliche Ausbildungsinitiativen verantwortlich. 

C. Handy: Diese Thematik enthält zwei unterschiedliche Fragen. Was sollten Sie sein – Prüfer oder Berater? Und was ist für die Zukunft interessant? Ich denke, dass Beratungstätigkeiten Kreativität erfordern, sodass sie in naher Zukunft nicht einfach durch Algorithmen ersetzt werden können –eine potenzielle Gefahr, die  bei der Wirtschaftsprüfung besteht. Ihre Frage ist also nicht nur, wie man die Beratungstätigkeit ausbauen kann, sondern auch wo man die beste Konzentration von Wissen und Talent vorfindet. Und genau dort liegt der Schnittpunkt der zweiten Kurve eines Unternehmens mit der zweiten Kurve von Individuen, sodass beide Seiten neue Chancen für sich selbst wahrnehmen.
 

Offene Probleme erfordern Agilität und Verständnis

Charles Handy

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P. Castagnac: Global betrachtet muss sich die Gesellschaft weiterentwickeln. Sind wir an dem Punkt angelangt, an dem für die westliche Welt eine zweite Kurve beginnen muss – oder haben wir schon Davy’s Bar erreicht?

C.Handy: Wir können bereits erkennen, dass Institutionen und insbesondere Wirtschaftsunternehmen begonnen haben, sich nach und nach aufzulösen. Institutionen werden mit immer weniger Personal auskommen. Flöhe, d.h. winzige Unternehmen oder Selbstständige, haben bereits begonnen, Elefanten zu ersetzen. Weniger als die Hälfte der Briten im arbeitsfähigen Alter arbeiten in einer Organisation mit einem Vollzeitvertrag. Oder, anders gesagt, 92 % der Unternehmen in Großbritannien beschäftigen weniger als fünf Personen. Das Gute daran ist, dass Sie ganz Sie selbst sein können. Doch das Problem ist, dass nur sehr wenige Menschen wissen, was sie sein möchten oder sein können und das Bildungssystem diese neue Problematik mit den traditionellen Grundsätzen und Strukturen nicht lösen kann.

L. Choain: Ja, aber  jüngere Generationen erfinden das Unternehmertum neu,  auch wenn in der Politik und beim Austausch von Ideen noch zu wenig passiert …

C.Handy: Das ist richtig. Aber die junge Generation muss sich entscheiden, welche Art von Leben sie möchte, und das ist sehr schwierig. Die meisten jungen Menschen heutzutage wurden extrem erfolgsorientiert erzogen. Doch die Gesellschaft, in der wir mittlerweile leben, vergrößert nicht den Reichtum. Sie vermehrt Kontakte, Freiheit,Lifestyle – aber nicht Reichtum. Die 92 % der britischen Unternehmen, die weniger als fünf Mitarbeiter beschäftigen, erwirtschaften nur 8 % des BIP. Das Geschäftsmodell von Airbnb ist cool, erzeugt jedoch keinen großen wirtschaftlichen Wert. Die Produktivität sinkt, und man kann sie nicht einmal messen. Was ist die Produktivität von Airbnb? Von Uber? Unternehmen und Regierungen wird das Geld ausgehen und Sparprogramme werden zunehmen.
 

Unternehmen können eine herrliche Spielwiese sein, um die Welt von morgen zu erfinden

Charles Handy

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P. Castagnac: Doch wie werden Unternehmen Ihrer Meinung nach mit dieser Art von „verarmter“ Wirtschaftssituation umgehen? Sind wir dem Untergang geweiht?

C.Handy: Ganz sicher nicht. Und Ihre Partnerschaft könnte eine hervorragende Spielwiese sein, um die Welt von morgen zu erfinden. Lassen Sie mich erklärten warum. Vor zwei Monaten rief mich der Personalchef eines sehr großen New Yorker Unternehmens an. Dort hatte man eine äußerst erfolgreiche Rekrutierungskampagne hinter sich, man stellte Topleute ein und bot ihnen sehr großzügige Konditionen an. Doch die meisten Kandidaten lehnten das Angebot ab. Um es kurz zu machen: Ich erklärte, sie sollten ihre neuen Topleute als Guerillakämpfer und nicht als disziplinierte Soldaten ihrer Armee betrachten. Sehen Sie sich selbst als Universität. Beschäftigen Sie diese Leute für drei bis vier Jahre, bringen Sie ihnen Fähigkeiten bei, die sie noch nicht besitzen, teilen Sie mit ihnen geistiges Eigentum. Und nach vier Jahren,wenn sie gut genug sind, entlassen Sie sie, damit sie ihr eigenes Unternehmen aufbauen können. Geben Sie ihnen Startkapital, setzen Sie sich in ihren Vorstand mit rund 20 % der Anteile. Geben Sie ihnen Unabhängigkeit, aber dennoch ein Gefühl der Verbundenheit, sodass sie einen Teil Ihres heutigen Geschäfts übernehmen, es Ihnen aber auf andere Weise zurückgeben. Diese Armee von Alumni wird die Quelle Ihrer Kreativität und Ihrer Expansion sein.

P. Castagnac: Wie hat das New Yorker Unternehmen reagiert?

C. Handy: Tja, sie sagten: „Danke, Charles, wir werden darüber nachdenken.“ Doch Marktführer können oft keine Dinge tun, die Herausforderer wagen. Ich denke, die Rolle des Herausforderers entspricht eher Ihrer Mentalität, nicht wahr?