Die Städte der Zukunft: Der Umgang mit Komplexität im Zeitalter von Shared Value

Weltweit werden laufend neue Stadtmodelle entworfen und umgesetzt: postindustrielle Städte mit Hoffnung auf einen Neubeginn (Coventry, Detroit und Charleroi), technologische Utopien, die nach einem weltweiten Spitzenplatz streben (Masdar in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Songdo in Südkorea), sowie überfüllte Megastädte mit reibungslosen Transportsystemen (Mexico City, Lagos und Singapur). Trotz der größenmäßigen und sozialen Unterschiede haben diese Orte eines gemeinsam: Sie müssen alle mit einer noch nie da gewesenen Vielschichtigkeit des städtischen Gefüges fertig werden. „Komplexität“ ist mittlerweile zum Schlagwort in der Stadtplanung geworden, die noch immer nach Lösungen sucht. Dieser Paradigmenwechsel hat zahlreiche Auswirkungen – sowohl auf die Stadt als auch auf ihre Bewohner.

von Mazars @MazarsGroup, am 2. Februar 2016

Erweiterung des Stadtbegriffs

Scott Smith, ein amerikanischer Futurist und Leiter der Agentur Changeist, spricht über ein „säkulares Versagen des geplanten Urbanismus“ – eine Aussage, die noch kein Architekt oder Stadtplaner widerlegen konnte. Smiths Auffassung nach „schwächt die sozioökonomische Komplexität unserer Welt die Strukturen des urbanen Ökosystems. Stadtbewohner führen komplexe, chaotische Leben: Die Stadtplanung muss Flexibilität  und seinen Bewohnern die Möglichkeit bieten, ihre eigene Umwelt zu gestalten“. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit, die Kompetenzen im Bereich der „Wissenschaft“ der Stadtentwicklung und insbesondere bei der Bürgerbeteiligung zu erweitern. Scott Smith beschreibt einen urbanen „Wandteppich“, der ebenso plakativ ist wie komplex und der durch die zunehmende Beteiligung der Stakeholder an der Entwicklung der urbanen Struktur entsteht. Früher war diese Beteiligung ausschließlich denjenigen vorbehalten, die direkt in diesem Bereich tätig waren (Architekten, Stadtplaner, Stadtentwickler oder Verkehrsplaner). Heute schließt die Stadtwissenschaft zahlreiche weitere Disziplinen mit ein, wie etwa Telekommunikationsanbieter, Künstler und Designer, Manager und nicht zuletzt Finanzingenieure, deren Fähigkeiten unerlässlich geworden sind für die Orte, die neue Modelle entwickeln möchten. Während die Entwicklung dieser Kompetenzen eine Voraussetzung für die Städte der Zukunft ist, steht auch fest, dass der Eintritt in diese neue Ära bedeutet, dass dem urbanen Gefüge eine weitere Ebene der Komplexität hinzugefügt wird.

Paradigmenwechsel

Der Architekt Alain Renk ist Gründer des Start-ups UFO und des Architekturstudios HOST sowie strategischer Berater für digitale Städte am Mines Telecom Institute. Renk sieht in dieser Bewegung auch das Ende eines alten urbanen Konzepts: „Fachliche Intelligenz, die in den Bunkern rigider Berufe eingeschlossen ist und auf das Fachgebiet beschränkt bleibt, wirkt mittlerweile lächerlich angesichts der agilen Intelligenz, die weit verbreitet über Menschen und Organisationen hinweg anzutreffen ist.“ Renk entwickelte die App „Unlimited Cities“, mit der Stadtbewohner die Vision ihrer Stadt mit anderen teilen können, um so die Entscheidungen von Stadtpolitikern zu beeinflussen. Mit dieser App möchte er die Einführungeines durch und durch kooperativen Urbanismus fördern, auf den sich Städte besser vorbereiten sollten. Die urbane Entwicklung benötigt einen Paradigmenwechsel – weg von einer vertikalen, hierarchischen Struktur hin zu einer horizontal ausgerichteten Organisation, die verschiedene Stakeholder einschließt. Ein gemeinsames Regieren und eine gemeinsame Steuerung durch alle Parteien, das die Stadt von morgen mit ihren vielen verschiedenen Interessen und Aktionen ausmacht. Einfacher gesagt als getan.

Vision einer horizontalen und offenen Stadt

Alles deutet auf eine Anpassung des Maßstabs hin, auf die Notwendigkeit, den urbanen Raum – ganzheitlich – als Ökosystem zu betrachten, um allen Stakeholdern zu ermöglichen, Verantwortung für ihre Umwelt zu übernehmen. Nicolas Nova, Mitbegründer der futuristischen Agentur Near Future Laboratory und Professor an der Geneva School of Art and Design, meint dazu: „Die größte Herausforderung besteht darin, den Fokus zu verlagernhin zu einer parallel dazu stattfindenden Definition von Themen und der Erarbeitung von Lösungen. Dies erfordert die Berücksichtigung verschiedener Szenarien und eine unkonventionelle oder völlig neue Denkweise“. Renk ist optimistisch bezüglich dieser Verschiebung von der Theorie hin zur Praxis: „Schlussendlich ist es einfach, Städten zu helfen, die Komplexität urbaner Probleme zu verstehen. Durch intelligente und kollektive Tools und Methoden zur Stadtentwicklung erhalten die Menschen Zugang zu einem dynamischen und lebendigen Verständnis eines Orts.“ Dieser Meinung ist auch Nova, der erklärt: „Einer der besten Wege, diese Probleme zu verstehen, ist es, Vorurteile abzubauen und gemischte Diskussionsforen einzurichten, an denen alle im jeweiligen Szenario involvierten Parteien teilnehmen“.

Alles deutet auf die Notwendigkeit hin, den urbanen Raum als Ökosystem zu betrachten. Zum Tweeten hier klicken

Curitiba

Die hier beschriebene Lösung wurde bereits in den 70er Jahren erprobt. Es war diese Verlagerung des Fokus, die bewirkte, dass in der Stadt Curitiba die Probleme bei Bevölkerungswachstum und Transport gelöst werden konnten. Seitdem gilt Curitiba als Vorbild für Stadtökologie und Stadtplanung. So war Curitiba die erste Stadt, die Fußgängerzonen in Brasilien errichtete, und bekannt ist für sein innovatives Bussystem, das als eine Art oberirdisches, metroähnliches Netzwerk aus Stationen und Umsteigemöglichkeiten konzipiert ist. Eröffnet von Bürgermeister Jaime Lerner, selbst Architekt, ist Curitibas Busnetz das Ergebnis eines echten Umdenkprozesses in der Stadtentwicklung. Und das zu einer Zeit, als konservativere Politiker lediglich über Straßen und noch mehr Straßen und teure U-Bahn-Systeme nachdachten. Durch die Einbeziehung aller an dem Prozess des urbanen Gefüge Beteiligten, darunter auch kleine Unternehmen, demonstrierte Curitiba die Vorteile eines gemeinsamen Entscheidungsprozesses – eine deutliche Abkehr von der üblichen Vorgehensweise in dieser Zeit. Jetzt, da Intermodalität in aller Munde ist, zeigt dieses Beispiel, dass die besten Lösungen nicht immer neue Ressourcen oder Einrichtungen erfordern, sondern eher eine systematische Neuorganisation vorhandener Räume und Netzwerke.

Hin zu „Shared Governance“

Beinahe drei Jahrzehnte später ist Curitiba – trotz unterschiedlicher Ergebnisse – noch immer ein Vorbild für Städte, die ihre Mobilität verbessern möchten. Die brasilianische Stadt wird gemäß einer Forbes-Studie aus dem Jahr 2009 nach wie vor als die „drittintelligenteste Stadt weltweit“ erachtet und ist damit von andauernder Bedeutung. Dennoch, die Welt hat sich in den letzten 30 Jahren maßgeblich verändert. Insbesondere der explosionsartige Anstieg des E-Commerce, die rapide Expansion digitaler Technologien in unserem Alltag sowie die erneute Verdichtung der Innenstädte brachten neue Herausforderungen für Städte. Um diese zu bewältigen, entsteht eine neue Form einer globalen Shared Governance: einer gemeinsamen Lenkungsfunktion, bei der die Stadt als Schicksalsgemeinschaft gesehen wird. Welche Städte werden in der Lage sein, ihren Entscheidungsfindungsprozess radikal zu ändern? Welche Modelle werden es schaffen, alle Stakeholder in den Stadtgebieten einzubeziehen, von Bewohnern über Politiker bis hin zu Investoren? Die Stadt ist ein einziges großes Versuchslabor.

Die brasilianische Stadt Curitiba gilt als die dritte „Smart City“ der Welt (Forbes, 2009). Zum Tweeten hier klicken

Komplexität: Eine methodische Herausforderung bei der Erfüllung urbaner Anforderungen

Mit seinen 12 Millionen Einwohnern ist der Großraum Paris ein spannender Ort zur Untersuchung urbaner Probleme – ob in Bezug auf Infrastruktur, Lösungen oder Regierung. Wenn es schon schwierig ist, die Komplexität dieser Region auf Papier zu bringen, wie kann es möglich sein, reale Maßnahmen umzusetzen? Angesichts dieser methodischen Herausforderung hat die Region Paris Mazars aufgefordert, sie bei der Entwicklung nachhaltiger und anpassungsfähiger urbaner Logistikmodelle zu unterstützen. Wie können wir nachhaltige, anpassungsfähige urbane Logistikmodelle erarbeiten, die die Anforderungen, die Einschränkungen und die Dynamik der Städte der Zukunft berücksichtigen? Mazars hat daraufhin ein methodisches Rahmenbedingungen entworfen, die die Zusammenarbeit zwischen allen Stakeholdern fördern. Ziel war es, alle Anforderungen (wie Zeitplan, Wirtschaftsmodelle etc.) aufeinander abzustimmen, dabei die unterschiedlichen Interventionsebenen zu berücksichtigen und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Besonderheit und Einzigartigkeit eines jeden Orts beachtet wird Unsere Arbeit war, natürlich, teilweise inspiriert von intelligenten Initiativen, auf die wir an anderen Orten aufmerksam geworden waren, doch wir wussten auch, dass dies keineswegs die einzige Möglichkeit war, innovative urbane Logistikmodelle zu entwickeln, die für die Dynamik eines jeden Platzes maßgeschneidert waren und von allen Stakeholdern begrüßt werden würden. Aus mehreren, in diesem Prozess gleichzeitig erarbeiteten, Lösungen wurden drei Testprojekte ausgewählt: Erstens wurde ein urbanes Logistikmodell integriert, das aus der Konzeptionsphase eines neuen umweltfreundlichen Stadtviertels stammte; zweitens wurde eine aus mehreren Kanälen bestehende, reibungslose urbane Logistik eingesetzt, um das Stadtzentrum zu revitalisieren; und schließlich wurden leerstehende, günstige gewerbliche Räumlichkeiten genutzt, um eine neue städtische Logistikinfrastruktur zu erschaffen und den wachsenden Transportbedarf zu decken, der durch die stete Zunahme des E-Commerce entsteht. Diese drei Maßnahmen ermöglichen es, ein neues Logistik-Ökosystem in einer komplexen urbanen Umgebung zu schaffen: Auf Basis dessen, was wir haben, definieren wir eine neue, bessere Realität.