„Nicht wenige Firmen stehen in Sachen Entgelttransparenz noch ganz am Anfang“

Bis Juni 2026 müssen alle Mitgliedsstaaten die europaweite „Entgelttransparenzrichtlinie“ der EU umgesetzt haben. Also noch viel Zeit und allenfalls ein Sujet für Jurist*innen, ließe sich einwenden. Doch bei diesem Thema steckt die Tücke im Detail – auch Aufsichtsrät*innen sind gefordert, erklärt Mazars Rechtsexpertin Corina Gräßer und rät, sich bereits heute damit zu befassen.

Frau Gräßer, spätestens bis zum 7. Juni 2026 muss auch Deutschland alle erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie eingeführt haben. Wie weit sind wir hier bereits?

Zunächst einmal, es handelt sich um eine Richtlinie. Im Gegensatz zu einer Verordnung bestimmt die EU hier nur das Ziel, nicht die konkreten Schritte dahin. Das bleibt Sache des nationalen Gesetzgebers. Und da bleibt uns noch eine Umsetzungsfrist von 36 Monaten. Das bedeutet aber nicht, dass diese Umsetzungsfrist auch vollständig ausgenutzt werden muss. Zudem startet Deutschland bei dem Thema ja nicht bei null – es gibt bereits seit 2017 eine nationale Regelung: das Entgelttransparenzgesetz. Und dieses enthält schon viele Vorgaben, die jetzt auch in der Richtlinie der EU vorgesehen sind. Letztlich geht es darum, einzelne Vorschriften, die schon bestehen, „nur“ noch auszuweiten. Über den Daumen gepeilt würde ich sagen, dass wir heute bereits etwa 70 Prozent umgesetzt haben. Doch das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die noch fehlenden 30 Prozentpunkte schnell und wie von selbst folgen. Dafür sind noch einige Anstrengungen notwendig. Am Ende aber wird Deutschland meiner Einschätzung nach vor Ablauf der offiziellen Frist im Juni 2026 mit der Umsetzung fertig werden.

Lassen Sie uns nochmals genauer auf die Unterschiede zwischen dem bereits bestehenden deutschen Gesetz und der neuen EU-Richtlinie zu sprechen kommen. Wo genau muss Deutschland nachbessern?

Eine wesentliche Neuerung betrifft den Auskunftsanspruch. Bereits heute dürfen Arbeitnehmer*innen in Deutschland eine entsprechende Auskunft nach der Entgelttransparenz verlangen – nur gilt das erst bei Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten. Die EU-Richtlinie sieht nun vor, dass dieser Auskunftsanspruch künftig von allen Unternehmen zu erfüllen ist. Ein anderer wesentlicher Unterschied besteht bei den Berichtspflichten. Die gibt es zwar auch heute schon im existierenden Entgelttransparenzgesetz – sie gelten aber nur für Unternehmen mit 500 oder mehr Beschäftigten. Die EU-Richtlinie senkt diese Größe auf 100 Beschäftigte ab. Allerdings haben Unternehmen nach bestimmten Staffelungen Zeit für die Umsetzung dieser nicht lapidaren Berichtspflichten, teilweise bis zum Jahr 2031. Neu im Rahmen der EU-Richtlinie ist auch die Vorgabe, bei einer geschlechtsspezifischen Lohnlücke von mehr als fünf Prozent eine Entgeltbewertung vorzunehmen, und zwar seitens der Arbeitgeber – zusammen mit den Vertreter*innen der Arbeitnehmer*innen. Unternehmen, die sich daran nicht halten, drohen Sanktionen und empfindliche Geldstrafen.

Wer genau darf vom Auskunftsanspruch Gebrauch machen?

Das Recht steht allen aktuellen Arbeitnehmer*innen zu. Sie haben sehr weitgehende Rechte. Künftig dürfen sich darauf aber auch Bewerber*innen eingeschränkt berufen, die sich für eine ausgeschriebene Stelle interessieren. Das ist eine Regelung, die es so im deutschen Recht noch nicht gibt – und auf die sich Unternehmen vorbereiten müssen. Allerdings geht es nicht darum, dass Bewerber*innen Einblick in die gesamte Entgeltstruktur erhalten. Das wäre aus Wettbewerbsgründen äußerst bedenklich. Dann könnte man Bewerber*innen vorschicken, um seine nicht tarifgebundenen Konkurrenten auszuspähen. Der Auskunftsanspruch von Bewerber*innen beschränkt sich auf Einstiegsgehälter. Übrigens: Im Umkehrschluss dürfen Unternehmen Bewerber*innen schon heute nicht nach deren aktuellen Gehältern fragen.

Könnte man zusammenfassend sagen: Für die großen Konzerne ändert sich mit der neuen EU-Richtlinie nicht so viel, für viele Mittelständler, die bisher gar nicht betroffen waren und unter den Beschäftigtengrenzen rangierten, aber eine Menge?

Ja, das ist im Kern zutreffend. Doch auch für die größeren Firmen wird das Thema, sagen wir, noch ernster. Denn wir sprechen jetzt von wirklichen Pflichten und echten Sanktionen, die laut EU-Richtlinie verbindlich in nationales Recht überführt werden müssen.

Wenn wir Ihrer Einschätzung nach bei einem Umsetzungsgrad von bereits rund 70 Prozent in Deutschland stehen, dann bezieht sich das doch auf den Gesetzgeber selbst. Wo aber stehen denn die Unternehmen?

Nicht wenige stehen in der Tat noch ganz am Anfang – also bei null Prozent. Teils wissen sie noch gar nicht, was da auf sie zukommt und dass die Ziele der EU-Richtlinie auch für sie gelten werden. Daher ist es erforderlich, sich bereits heute mit dem Thema zu befassen und tätig zu werden. Zu Beginn steht dabei vor allem die Analyse, das betrifft primär den Aspekt „gleichwertige Arbeit“, die ebenso gleich bezahlt werden muss wie „gleiche Arbeit“. Wichtige Fragen sind zu klären wie etwa: Haben wir im Unternehmen ein größeres geschlechterspezifisches Lohngefälle? All diese Informationen müssen für die Berichtspflichten zusammengetragen werden. Zudem empfehle ich, ein Kontrollsystem zu entwickeln, um zu prüfen, ob die Informationen, die verarbeitet werden, auch auf dem neuesten Stand sind oder wie der Wissensstand aktuell gehalten werden kann.

Wie häufig müssen Unternehmen denn ihre Entgelte transparent machen?

Im nationalen Recht ist es aktuell so vorgesehen, dass tarifgebundene Unternehmen alle fünf Jahre einen ausführlichen Bericht erstellen müssen. Nicht tarifgebundene Firmen sind sogar im Dreijahrestakt gefordert. Dabei müssen die Unternehmen etwa die Gesamtzahl der Beschäftigten und die Zahl der Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten angeben sowie über die Maßnahmen informieren, mit denen sie die Gleichstellung von Frauen und Männern und letztlich die Entgeltgleichheit fördern und erreichen möchten.

Droht uns da nicht ein neues Bürokratiemonster?

Ich rate zu einer anderen Sichtweise. Unternehmen sollten nicht gegen die EU-Richtlinie aufbegehren, sie sollten vielmehr das Beste aus ihr machen und zu Vorreitern bei der Entgelttransparenz werden. Wer fair bezahlt, Entgeltgerechtigkeit auch ohne staatlichen Druck von sich aus umsetzt und das offen kommuniziert, kann im War for Talents punkten. Gerade jüngeren Bewerber*innen liegt das Thema am Herzen. Zudem ist Entgelttransparenz nicht nur ein Pluspunkt im Employer Branding, sondern auch für die Bindung der aktuell Beschäftigten von immenser Wichtigkeit.

Warum ist das Thema Entgelttransparenz auch für den Aufsichtsrat von Relevanz?

Es ist nach meinem Dafürhalten sogar ein entscheidendes Thema für den Aufsichtsrat. Es geht um Pflichten, eine klare Timeline und empfindliche Sanktionen im Fall von Zuwiderhandlungen. Deswegen ist es essenziell, dass sich auch Mitglieder von Aufsichtsgremien mit den Neuerungen vertraut machen, um ihren Überwachungspflichten gerecht werden zu können. Das Thema Entgelttransparenz wird in den kommenden Jahren massiv an Bedeutung gewinnen. Unternehmen können nicht früh genug beginnen, sich damit zu befassen.

Zur Person

Corina Gräßer, LL. M. ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Steuerrecht sowie Mediatorin im Berliner Büro von Mazars.

 

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