Virtuelle Hauptversammlung – ein ernüchterndes Fazit

Corporate-Governance-Spezialist Ingo Speich von Deka Investments, der Fondsgesellschaft der Sparkassen, berichtet im Interview mit Board Briefing über seine gemischten Erfahrungen mit dem Format der virtuellen Hauptversammlung. Und er erklärt, warum er die Zeit für grundlegende Reformen des Aktionärstreffens gekommen sieht.

Herr Speich, Sie haben in diesem Jahr an vielen Hauptversammlungen teilgenommen, um dort die Stimmen der Deka-Kund*innen zu vertreten. Darunter waren Veranstaltungen in Präsenz, aber auch viele virtuelle Treffen, weil ein Großteil der Unternehmen selbst nach dem Ende der Pandemie an diesem Konzept festgehalten hat. Da Sie also vergleichen können: Wie fällt Ihre Zwischenbilanz zum digitalen HV-Format aus?

Das Fazit fällt ernüchternd aus – man kann es leider nicht anders sagen. Das digitale Format zeichnet sich bei sehr vielen Unternehmen vor allem durch eines aus: technische Fehler. Laut einer Studie der Deutschen Schutzgemeinschaft für Wertpapierbesitz (DSW) wurden in der Hauptversammlungssaison 2023 bei 32 % der virtuellen Hauptversammlungen technisch bedingte Störungen bei der Übertragung protokolliert. Dies gilt für Unternehmen aller Größen. Diese Aussage deckt sich mit unseren Erfahrungen, die wir dieses Jahr bei 29 Unternehmen gemacht haben und auf deren Hauptversammlung wir mit einem Redebeitrag präsent waren. Traurig ist, dass die Präsenz, also die Anzahl der Teilnehmenden bei Hauptversammlungen, ebenfalls nicht gestiegen ist. Die Quote in Deutschland liegt bei weiterhin rund 65 %. Virtuelle Hauptversammlungen haben ein weiteres Manko: Es fehlt, dass Sie die Stimmung im Saal aufnehmen und daraus Ihre Erkenntnisse ableiten können. Alles in allem ist aus unserer Sicht das Format der virtuellen HV enttäuschend.

Gibt es denn trotz dieser Kritik Dinge, die Sie grundsätzlich positiv bewerten?

Wenige, dazu gehört die schnelle Teilnahmemöglichkeit. Dieses Plus entsteht aber zulasten des Informationsgehalts. Wie ich bereits erwähnt habe: Der Eindruck und Austausch der Teilnehmer*innen einer Präsenz-HV ist nicht erlebbar. Unter dem Strich wiegen also die Nachteile des digitalen Formats schwerer als dessen potenzielle Pluspunkte.

Gibt es aus Ihren Erfahrungen heraus Punkte, bei denen Sie besonders Nachholbedarf sehen?

Die DSW-Studie legt ein klares Bild offen: Virtuelle Hauptversammlungen sind im Vergleich zur Präsenz-Hauptversammlung bei Aktionär*innen weniger beliebt. Das lässt sich auch an den Zahlen ablesen: Beim Spezialchemie-Unternehmen Lanxess zum Beispiel waren im Jahr 2019 rund 1.250 Aktionär*innen anwesend, im Jahr 2023 waren es lediglich 96. Ein anderes Negativbeispiel ist der Modehersteller Hugo Boss mit 840 zu 84 Aktionär*innen. Ein weiteres Thema ist die Länge der HV. Bei Covestro dauerte die virtuelle HV mehr als neuneinhalb Stunden und war durch Unterbrechungen von mehr als zwei Stunden eine echte Herausforderung für die Aktionär*innen. Die von uns besuchten virtuellen Hauptversammlungen zeichneten sich auch nicht durch einen Zeitgewinn gegenüber dem Präsenzformat aus. Einer meiner Kollegen ist mit seinem Redebeitrag bei der Commerzbank drei Mal technisch gestoppt worden. Selbst nach mehrmaligen Versuchen, wieder auf die Bildfläche zu kommen, wurde die Rede nicht vollständig übertragen. Ein solcher Vorfall kann den Sinn und Zweck einer Rede schnell verfälschen. Insofern ist hier höchste Vorsicht geboten.

Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, damit sich das virtuelle HV-Format dauerhaft durchsetzen kann?

Eine Menge. Das virtuelle Format ist in der derzeitigen Version nicht zukunftsfähig. Dafür muss an vielen Stellen dringend nachgebessert werden. Ein Handlungsfeld ist zum Beispiel: Die Interaktion muss erhöht werden. Auch die Möglichkeit des Austauschs zwischen Aktionär*innen muss deutlich ausgebaut werden. Priorität hat jedoch, dass die Unternehmen sicherstellen müssen, dass ihre Hauptversammlungen technisch und damit auch rechtlich unanfechtbar stattfinden.

Wie könnte ein Idealmodell aussehen?

Unserer Position als Deka ist, dass wir ein hybrides Modell bevorzugen. Das heißt, die Interessen der Investor*innen stehen im Mittelpunkt. Die Unternehmenseigentümer*innen können selbst entscheiden, auf welchem Weg sie an der Hauptversammlung teilnehmen möchten – digital oder tatsächlich physisch. Ein Entweder-oder darf es für die Unternehmen und ihre Verantwortlichen in dieser Frage nicht geben.

Wohin geht der Trend im DAX 100?

Der Trend geht zurück zum Präsenzformat – zumindest lässt sich beobachten, dass kleinere Gesellschaften der Präsenz-HV eher den Vorzug geben als die großen Konzerne. Allein auf den DAX bezogen haben 28 von 40 Unternehmen ihre Hauptversammlung virtuell durchgeführt. Im MDAX waren 24 Unternehmen virtuell unterwegs und 25 wiederum in Präsenz, und im SDAX stand es 26 virtuell zu 40 in Präsenz.

Jetzt haben sich einige Emittenten von ihren Aktionär*innen die Ermächtigung eingeholt, bis 2025 die HV weiterhin virtuell durchführen zu dürfen. Ein Argument dabei: die vergleichsweise geringeren Kosten. Besteht aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass auf diese Weise Aktionärsrechte dauerhaft ausgehöhlt werden?

Diese Entwicklung sehen wir kritisch, da viele virtuelle Hauptversammlungen dem Anspruch einer Präsenz-Hauptversammlung bei Weitem nicht gerecht werden. Auch darf an dieser Stelle das Kostenelement nicht entscheidend sein. Der Aufwand für eine digitale Hauptversammlung ist unseren Informationen nach nicht wesentlich günstiger als die Abhaltung einer Präsenz-HV.

Für welchen Weg wird sich die Deka Investments einsetzen?

Ganz klar für die Zweigleisigkeit: das hybride Format. Für uns hat eine Stärkung der Aktionärsrechte und damit der Interessen unserer Anleger*innen Vorrang. In diesem Sinne gehen wir aktiv in den Dialog mit den Unternehmen, um auf Missstände hinzuweisen. Wir nutzen die Möglichkeit, unsere Stimmrechte auszuüben und unsere Stimme auf der Hauptversammlung zu erheben. Wir wirken über diese Plattform ganz wesentlich auf die Corporate Governance von Unternehmen ein, um dadurch auch eine langfristige Wertsteigerung der Investments zu erreichen. Als Deka Investment haben wir die treuhänderische Pflicht, die Interessen unserer Kund*innen wahrzunehmen. Engagement ist essenzieller Bestandteil dieser Sorgfaltspflicht. Dabei nehmen wir eine aktive Rolle bei der Ausübung der uns anvertrauten Aktionärsrechte ein.

Zur Person

Ingo Speich leitet seit April 2019 die Abteilung „Nachhaltigkeit und Corporate Governance“ der Deka Investments. Zuvor war er seit 2004 bei Union Investment als Senior Portfoliomanager tätig und leitete zuletzt die Gruppe „ESG Capital Markets & Stewardship“. In seine Zuständigkeit fallen alle Leistungen zur Nachhaltigkeit. Dazu gehören vor allem Umsetzung von Nachhaltigkeit im Portfoliomanagement und Produktmanagement, Engagement, Hauptversammlungsabstimmungen und Reden sowie die Zusammenarbeit mit verschiedenen Research-Anbietern und Nachhaltigkeitsinitiativen.

 

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