Legt die Scheu vor KI ab

Seit dem Marktstart von ChatGPT vor rund einem Jahr verändert die Künstliche Intelligenz eine Branche nach der nächsten grundlegend. Wer KI für einen Hype hält, verschläft jetzt fundamentale Trends, warnt der deutsche KI-Unternehmer und -Vordenker Simon Sack. Die Aufsichtsrät*innen nimmt er dabei besonders in die Pflicht.

Herr Sack, Sie bezeichnen sich als selbst als „Tech-Punk“. Mit Ihrem KI-Unternehmen NEUROLOGIQ mit Sitz in Siegen beraten Sie namhafte deutsche Mittelständler bei der digitalen Transformation und ganz konkret zum Thema Künstliche Intelligenz. Wie würden Sie auf einer Skala von 1 bis 6 (Schulnotensystem) die derzeitige KI-Situation im Mittelstand bewerten?

Das wäre eine Vier minus bis Fünf.

Das ist hart. Wie begründen Sie das?

Bevor sich ein Unternehmen überhaupt mit KI, Machine Learning oder Deep Learning beschäftigen kann und sollte, gilt es, ganz andere, grundlegende Dinge der Digitalisierung zu klären. Die Firmen müssen prüfen, über welche Daten sie überhaupt verfügen, auf denen dann eine KI aufgesetzt werden könnte. Wenn wir als Berater in die Unternehmen reinschauen, stellen wir oft fest: Da sind zwar sehr viele Daten, aber leider teilweise einfach in schlechter Qualität. Oder wie es häufig bei produzierenden Unternehmen im Mittelstand der Fall ist: Es gibt große Maschinenparks mit digitaler Anbindung, aber absolut keine gespeicherten und damit sinnvoll nutzbaren Daten. All diese Hausaufgaben müssten zuerst gemacht werden, bevor KI hier überhaupt eine Option wird. Doch selbst Daten allein führen nicht zwingend zum Erfolg. Unternehmen benötigen auch eine ganz klare Datenstrategie. Sie müssen für sich herausfinden, welche Daten sie haben, welche Daten sie benötigen und was eigentlich das übergeordnete Ziel hinter dem Datensammeln ist. Wollen sie damit „nur“ Geld verdienen? Wollen sie einen vertieften Einblick in die Branche bekommen?

Können Unternehmen eigentlich auch zu viele Daten sammeln?

Ja, das habe ich schon häufig erlebt. Ich war bei einigen Mittelständlern mit eigenen, oft seit Jahren betriebenen Rechenzentren. Diese haben über die vergangenen Jahre immense Datenberge gesammelt, dies aber komplett ohne Strategie. Jetzt ersticken sie in dieser Informationsflut, selbst KI hilft da dann nicht mehr weiter.

Zurück zu den Schulnoten. Eine faktische Fünf für die KI-Readiness ist ein schlechtes Zeugnis. Fällt denn wenigstens Ihre Note besser aus für die Bereitschaft in Konzernen und im Mittelstand, daran etwas zu ändern?

Vor dem 30. November 2022, also der Liveschaltung von ChatGPT, waren wir bei einer Drei bis Vier. Jetzt sind wir bei einer Eins bis Zwei. ChatGPT sei Dank – das Thema Künstliche Intelligenz wurde demokratisiert und es wurde greifbarer. Auch relativ technikferne Menschen in Vorständen oder Aufsichtsräten haben erfahren, wie einfach es sein kann, eine E-Mail dank KI zu formulieren. Die Bereitschaft, sich damit zu beschäftigen, ist hoch. Das Thema diffundiert nun in die Unternehmen hinein.

NEUROLOGIQ entwickelt KI-Lösungen für die mittelständische Industrie sowie bestehende Geschäftsprozesse. Welche drei beispielhaften Prozesse sind in der deutschen Industrie besonders modernisierungsbedürftig?

Da ist vor allem das Thema Qualitätssicherung zu nennen – etwa bei wiederkehrenden Prozessen in der Herstellung. Aber auch im administrativen Bereich von Unternehmen, etwa in Marketing und Vertrieb, könnte KI durch effiziente Unterstützung für Verbesserung sorgen. Das gilt ebenso für eine dritte Standardanwendung, das automatische Auslesen von Formularen.

Simon Sack

Wenn Sie mit 27 Jahren vor oft doppelt so alten Menschen in Vorstand oder Aufsichtsrat sprechen, wie überzeugen Sie diese, dass KI nicht irgendein neuer Hype ist, sondern ein fundamentaler Trend?

Tatsächlich ist KI nicht neu, bereits Mitte der Neunzigerjahre schlug der KI-Rechner „Deep Blue“ den damaligen Schachweltmeister. Was aber wirklich neu ist, ist die Entwicklung der generativen KI. Die immensen Sprünge bei der Rechnerleistung machen es jetzt möglich, Probleme zu lösen, die früher nicht gelöst werden konnten. Früher konnten die Maschinen auf Basis fixer Logarithmen nur „logisch denken“. Heute sind sie in der Lage, neuronale Netze nachzubauen und damit zu lernen.

Finden Ihre Appelle für mehr Mut beim Thema KI und Tempo in den Vorstandsbüros und Aufsichtsräten Gehör? Dort sitzen viele Entscheider, die noch mit dem Betriebssystem Windows 95 sozialisiert wurden…

Die Offenheit für das Thema KI ist in der Tat groß. Viele haben sich privat sehr wohl schon mit ChatGPT befasst, die Chancen erkannt und ihre Scheu abgelegt. Zudem gibt es diesen massiven Druck aus der Öffentlichkeit und dem Markt. Es ist heute weitaus gefährlicher und kostenintensiver, sich nicht mit KI zu befassen, als es zu tun. Auch Aufsichtsrät*innen fragen sich Tag für Tag: Was passiert da um mich herum? Und was, wenn wir da nicht mitmachen? Für diejenigen, die sich verweigern, könnte das so enden wie rund um die Jahrtausendwende, als manche Firma sagte: Internet und E-Commerce? Brauchen wir nicht. Heute ist der Onlinehandel nicht mehr wegzudenken.

Nehmen wir an, eine Firma will verstärkt auf KI setzen. Wie beginnt sie damit?

Genau das ist die Gretchenfrage. Zu Beginn sind da oft nur die Absicht und die große Blackbox mit Daten. Daher ist eine grundlegende Analyse der Daten und der Datenqualität anfangs zwingend nötig. Darauf aufbauend geht es darum, Use Cases über die gesamte Firma zu identifizieren. Das können langfristige Projekte sein – aber auch „low-hanging fruits“ sind wichtig, etwa für Automatisierungen bei Verwaltungsprozessen. So können die Beschäftigten, aber gerade auch die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat, schnell erkennen: Das Ganze bringt etwas. KI ist kein Selbstzweck, KI optimiert.

Wie viel KI-Know-how muss das C-Level heutzutage mitbringen? Der Deutsche Corporate Governance Kodex schreibt in seiner aktuellen Fassung vor: „Die Mitglieder des Aufsichtsrats nehmen die für ihre Aufgaben erforderlichen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen eigenverantwortlich wahr.“ Muss sich jetzt jede*r auf die KI-Schulbank setzen?

Nicht alle im Vorstand oder Aufsichtsrat müssen ausgewiesene IT-Expert*innen sein. Wichtig sind aber Offenheit für das Thema und das Beherrschen der Basisklaviatur und des Basisvokabulars. Es geht um die Gesprächsfähigkeit bei diesem zentralen Zukunftsthema. Niemand sollte sich hinter dem IT-Vorstand oder einem anderen Aufsichtsratsmitglied mit IT-Background verstecken. KI ist ein Querschnittsthema und geht damit alle im Board und Aufsichtsrat an.

Wann gibt es auch in Deutschland den*die erste*n Aufsichtsrät*in auf KI-Basis? Der chinesische Gaming-Konzern NetDragon Websoft hat bereits im August vergangenen Jahres die Künstliche Intelligenz Tang Yu zum neuen CEO ernannt.

Technisch ist das heute schon möglich. So gibt es etwa auf Instagram virtuelle Influencer, die automatisiert Content generieren und damit großen Erfolg bei Follower*innen haben. Denkbar ist es beispielsweise, einen virtuellen Aufsichtsrat zu installieren, der mit allen Geschäftsdaten und Beschlüssen des Aufsichtsrats der vergangenen Jahre gespeist und trainiert wird. Dann ist es heute keine Kunst mehr, einen virtuellen Avatar zu erstellen und eine Stimme zu generieren, sodass diese Kunstperson auch interagieren kann. Als dauerhaftes Gewissen im Aufsichtsrat und Garant für eine konsistente Unternehmensplanung könnte ich mir so einen Avatar in naher Zukunft durchaus vorstellen.

Zur Person

Simon Sack ist Gründer und Chef von NEUROLOGIQ in Siegen. Direkt im Anschluss an sein Informatikstudium an der Universität Siegen gründete der heute 27-Jährige im November 2018 das KI-Beratungsunternehmen. NEUROLOGIQ hat sich vor allem auf „Vision AI“, also Verfahren rund um die Bilderkennung, für den deutschen Mittelstand fokussiert.

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