„Wir müssen uns in Aufsichtsräten immer wieder neu erfinden“

Kaum jemand kennt das Innenleben und damit auch die aktuellen Herausforderungen deutscher Konzerne und Unternehmen besser als Professorin Ann-Kristin Achleitner. Im Interview nimmt die renommierte Wissenschaftlerin Stellung zur Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland – und zur besonderen Rolle von Aufsichtsräten für das Gelingen der Zeitenwende.
Portrait - Ann Kristin Achleitner

Frau Professor Achleitner, viele Unternehmen stehen im aktuellen Umfeld vor großen Herausforderungen und müssen mit steigenden Risiken umgehen. Auf welche Eigenschaften sollten sich Aufsichtsräte und Vorstände fokussieren, um sich in dieser Phase zu behaupten?

Ich bezweifele, dass die Unsicherheiten im ökonomischen Umfeld nur eine vorübergehende Phase sind. Wir erleben angesichts des technologischen Wandels und der neuen geopolitischen Realität in vielen Bereichen ja gerade eine tektonische Verschiebung. Der Ausgang ist dabei oft noch offen. Es dürfte auch noch dauern, bis wir aus dem gegenwärtigen Dauerkrisenzustand herauskommen. Manager und Aufsichtsräte brauchen jedenfalls eine hohe Resilienz, um diese Situation meistern zu können. Zusätzlich müssen Unternehmen ihre Innovationsfähigkeit stärken. Dafür braucht es Wandlungsfähigkeit, damit sie mit den Veränderungen, die wir erleben, nicht nur Schritt halten, sondern darüber hinaus ihre Wettbewerbsfähigkeit sogar noch ausbauen können.

Welche Rolle spielt der Aufsichtsrat dabei, diese Fähigkeiten strategisch zu entwickeln und zu schärfen?

Der Aufsichtsrat ist ja nicht im operativen Geschäft tätig, sondern seine Aufgabe ist es, den Vorstand auf verschiedene Weise zu unterstützen. Über all dem muss er selbstverständlich seine Überwachungsfunktion wahrnehmen. Gefragt ist ein Dreiklang aus Rückgrat, Motivationstalent und Kontrolle – das müssen wir uns immer wieder bewusst machen.

Das ist jetzt quasi eine ideale Tätigkeitsbeschreibung. Aber welche Fähigkeiten müssen Aufsichtsräte speziell im jetzigen Umfeld entwickeln gegenüber etwa dem Umfeld vor zehn Jahren?

Die vergangenen Jahre waren für die meisten Aufsichtsräte sehr anspruchsvoll. Es bestand die Gefahr, in einen reaktiven Modus hineinzukommen, in dem man sich vor allem darauf fokussiert, Schäden für das Unternehmen abzuwenden. Jetzt kommt es darauf an, dass Unternehmen progressiver nach vorne schauen können. Wir müssen heute viel mehr in langfristigen Szenarien denken, um vorauszusehen, was auf das Unternehmen zukommen könnte. Wir sehen im Moment ja bestenfalls die Konturen dessen, was vor uns liegt. Diese Szenarien, die Geschwindigkeit des Wandels und die Notwendigkeit, schnell darauf zu reagieren, ist die Agenda, die wir heute auch in Aufsichtsräten diskutieren müssen. Bei bestimmten Themen, wie etwa der digitalen Transformation und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz, die Unternehmen häufig nicht allein aus eigener Kraft stemmen können, müssen Aufsichtsräte die Fähigkeit haben, die Kompetenzen und Denkweisen, die dafür erforderlich sind, mit abzubilden. Dies gilt es bei der Berufung neuer Mitglieder zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass wir teilweise in vollkommen neuen Geschäftsmodellen denken müssen. Es geht schließlich nicht nur um neue Technologien, sondern vor allem darum, was sich durch ihren Einsatz ändert an der Art und Weise, wie man sein Geschäft betreibt.

Müssen die Mitglieder eines Aufsichtsrats also die realistische Selbsteinschätzung besitzen, zu sagen: Dazu bin ich nicht oder nicht allein in der Lage? Wie holen wir uns Know-how ins Haus, etwa über einen Beirat?

Die Aufsichtsräte reflektieren nach meinen Beobachtungen in dieser Hinsicht relativ viel, auch im Zuge der internen Effizienzprüfungen. Als Organmitglieder müssen wir auch selbstkritisch sein. Arbeiten wir wirklich effektiv zusammen? Sind wir zum Beispiel konstruktiv kritisch genug in unseren Debatten? Oder suchen wir zu schnell Konsens? Oder ganz praktisch: Sehen wir uns häufig genug?

Und diese Fragen werden so angestoßen?

Ohne Impuls von innen oder außen wahrscheinlich nicht. Klar ist: Für diese Debatten brauchen wir andere Modelle und vielleicht auch eine andere Kultur, die gewachsen ist und weiterwächst. Auch über Kompetenzen und Profile muss gesprochen werden. Am Beispiel Cyber-Security kann man das gut verdeutlichen. Wie sichere ich mein Unternehmen nach den neuesten technischen Standards ab? Wie resilient sind wir? Sind wir Cyber-compliant? In der Umsetzung geht es dann um Fragen wie: Wen müssen wir dafür ins Unternehmen holen? Wie gehen wir die Transformation an? Und wie integriere ich das in der Zusammenarbeit der Gremien? Es reicht in der Regel nicht, einfach nur einen Verantwortlichen zu benennen. Gut geführte Gremien schauen sich dafür das gesamte Tableau an. Und dann braucht es eben Selbstkritik, um zu sagen: Dieses oder jenes müssen wir ändern, weil es nicht mehr passt.

Brauchen Aufsichtsräte Nachhilfe in agilem oder digitalem Zusammenarbeiten? Oder einen Impuls, um zu hinterfragen, ob das Gremium noch effizient arbeitet und die Struktur passt?

Aufbau und Ablauforganisation des Aufsichtsrats sind zweifellos wichtig. Dabei muss man auch sehen, dass die Arbeit zu wichtigen Teilen ja nicht im Gesamtgremium, sondern in den Ausschüssen stattfindet. Wenn ich zum Beispiel steigende Risiken in einer unklaren Zukunft reflektieren möchte, könnte die Frage sein, ob ich das in einem Strategieausschuss oder besser in der großen Runde besprechen möchte. Und wen ziehe ich dafür von außen hinzu? Diskutieren wir in physischer Runde, ist ein direkterer Austausch möglich. Aber wie viel Zeit können wir dafür einsetzen? Welche Punkte lassen sich vielleicht anders abarbeiten? Ich denke, an der Stelle könnten Gremien viel selbstkritischer sein. Viele Debatten drehen sich im Moment eher um Aufbau und Organisation und weniger um die Frage: Wie wollen wir innerhalb des Gremiums agieren?

Ist das auch eine Frage der Leitung?

Ganz sicher. Der Vorsitzende beziehungsweise die Vorsitzende des Gremiums gibt in der Art und Weise, wie sie oder er das Amt ausübt, ganz wesentlich die Taktung und die Agenda vor. Das ist letztlich auch eine Frage der Persönlichkeit, die an der Spitze steht – sowohl im Hauptgremium als auch in den Ausschüssen.

Sie selbst sagen: Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats sollte dem Transformationsumfeld angemessen sein, die entsprechenden Kompetenzen sollten auch integriert werden. Das Stichwort dafür ist strukturelle Diversität. Was genau verstehen Sie darunter?

Wenn über Diversität gesprochen wird, sollte man zwei Bereiche unterscheiden. Es gibt die soziale Ausprägung von Diversität, über die meistens gesprochen wird – und das ist auch wichtig. Mindestens genau so entscheidend aus Sicht des Unternehmens ist aber die betriebswirtschaftliche Dimension: Einige Studien zeigen, dass divers geführte Unternehmen anders oder besser performen als weniger diverse. Aber woran liegt das? Wie wird Diversität jeweils definiert? Sie können auf dem Papier divers sein, indem sie zum Beispiel im Vorstand und im Aufsichtsrat die Frauenquote erfüllen. Aber reicht diese Tatsache allein aus, um erfolgreicher zu sein? Ein anderes, sehr interessantes Beispiel, das viel zu wenig diskutiert wird, ist internationale Diversität. Ändert sich dadurch etwas im Miteinander oder hat es sogar kontraproduktive Tendenzen? Das ist nicht erforscht. Deswegen muss man sich fragen: Wann und warum hilft Diversität? Ich sage: Es hilft eine Diversität, die verschiedene Denkweisen, verschiedene Erfahrungen und ein paar andere Dinge in die Debatten mit einbringt. Konstruktiv nutzen kann ich Diversität aber nur, wenn ich auch eine Kultur habe, die entsprechende Debatten wertschätzend unterstützt und abweichende Standpunkte nicht nur duldet, sondern wirklich in die kritische Auseinandersetzung einbezieht. Das ist sehr wichtig. Wenn ich keine Akkumulation und Integration diverser Persönlichkeiten habe, das Gremium nicht als Team agiert und keine entsprechende Debattenkultur besteht, werden Aufsichtsrat und Management nicht automatisch zu besseren Ergebnissen kommen.

Selbst Mittelständler sind heute international aufgestellt. Warum repräsentiert der Aufsichtsrat diese Internationalität nicht immer angemessen?

Das ist eine berechtigte Frage. In der Regel wachsen und verfestigen sich über die Zeit bestimmte Strukturen in den Gremien. Die gilt es im Zweifel zu ändern, wenn man die Mandate aufstockt, um breiter, also diverser, zu werden. Wir müssen uns als Aufsichtsräte immer wieder neu erfinden. Ich habe sowohl in Deutschland mit internationalen Board-Mitgliedern gearbeitet als auch selbst als internationales Mitglied bei ausländischen Unternehmen. Was mir dabei immer wieder bewusst geworden ist: Es gibt in jedem Land jeweils kulturelle, rechtliche und andere Besonderheiten, die bestimmen, welche Themen in welcher Weise diskutiert werden. Bei den Sitzungen vor Ort gibt es häufig auch das Phänomen, dass internationale Mitglieder weniger nah dran sind an den Entscheidungen, dass sie weniger einbezogen werden in den Debatten und dass sich mehr im Inner Circle abspielt. Hierzu habe ich zum Beispiel in meiner Zeit in einem französischen Board viel gelernt. Es ist wichtig, zu unterscheiden, wo man aufgrund der Internationalität seine Perspektiven von außen einbringen kann und in welchen Punkten kulturelle oder andere Unterschiede bestehen, die zu respektieren sind. Ich komme noch mal auf den Dreiklang zu Anfang zurück: Wahrscheinlich muss man als internationales Mitglied eines Aufsichtsrats mehr Fingerspitzengefühl mitbringen und einen größeren Balanceakt schaffen. Wo bringe ich mich als Motivator und Impulsgeber ein, wo muss ich besonders Rückgrat zeigen und wo nehme ich mich vielleicht etwas zurück – aus Respekt vor der Kultur und der Erfahrung der Führungscrew?

Zur Person

Ann-Kristin Achleitner ist Mitglied in Aufsichtsräten und Beiräten verschiedener internationaler Unternehmen und Institutionen. Sie ist „Distinguished Affiliated Professor“ an der Technischen Universität München (TUM), wo sie von 2001 bis 2020 den Lehrstuhl für Entrepreneurial Finance innehatte. Die vielfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin hat mehrere Kommissionen der deutschen Bundesregierung, der bayerischen Landesregierung und der schweizerischen Regierung sowie der EU-Kommission beraten. Zurzeit ist sie unter anderem Mitglied des Zukunftsrats des Bundeskanzlers.