Aufsichtsräte müssen Themen besser verstehen lernen

Beirätin Isabel Hartung spricht im Interview mit Board Briefing darüber, welche Themen Kontrollorgane derzeit auf dem Schirm haben sollten und warum es für Unternehmen lohnenswert ist, sich ein Ökosystem aufzubauen.

Frau Hartung, wir erleben nach dem Ende der Pandemie eine Phase fortgesetzter Unsicherheit. Wo sind die Aufsichts- und Beiräte dabei gefordert?

Hartung: Das ist je nach Unternehmen sehr unterschiedlich. Einige müssen sich intensiv mit den negativen Auswirkungen der hohen Energiepreise auf das operative Geschäft auseinandersetzen. Andere Geschäftsmodelle dagegen, etwa im Bereich Nachhaltigkeit, sind davon nur wenig oder überhaupt nicht betroffen. Da steht eher die Frage im Fokus: Wie können wir wachsen? Die Herausforderung ist dann, Kapitalbasis und Liquidität zu stärken. Denn wenn das Working Capital steigt und der freie Cashflow geringer ausfällt, sollte man gut aufgestellt sein, falls doch noch einmal eine große Krise kommt. Häufig ist es so, dass solche Themen bei der Geschäftsführung gesehen werden. Aber der Aufsichtsrat ist dabei genauso in der Pflicht.

Welche Themen sollten denn Aufsichts- und Beiräte derzeit auf ihrer Agenda haben?

Hartung: Zunächst unbedingt das Thema Resilienz. Das Unternehmen widerstandsfähiger zu machen, klingt so einfach und die Floskel ist vielleicht auch schon etwas abgegriffen. Aber die konkrete Frage aus Sicht der Unternehmen ist: Wie schaffen wir es, robuster zu werden und auf negative Entwicklungen besser vorbereitet zu sein? Der Krieg in der Ukraine, die Risiken der Supply-Chain, das Verhältnis zu China, die Sicherheit der Energieversorgung – bei all diesen Themen ist völlig unklar, wie sie sich entwickeln werden. Und sehr viele Unternehmen haben inzwischen konkret erlebt, dass es kleine, unscheinbare Dinge sein können, die die Produktion lahmlegen, ohne dass sie das bislang auf dem Schirm gehabt haben.

Damit ist die Agenda aber doch nicht abgearbeitet, oder?

Isabel Hartung

Hartung: Nein, das zweite große Thema hatte ich bereits angesprochen: die Stärkung der finanziellen Basis. Ein Großteil der Betriebe im produzierenden Sektor hat das Working Capital hochgefahren – zum einen, weil sie einen Puffer bei ihren Vorräten aufgebaut haben, zum anderen, weil sie unfreiwillig die Bestände an halbfertigen Erzeugnissen erhöhen mussten – für die Elektronik-Komponenten oder weil etwas anderes fehlt. Gleichzeitig sind durch die höheren Zinsen die Kapitalkosten enorm gestiegen. Im Grunde hätten sich betroffene Firmen also schon längst günstige Kreditlinien sichern müssen. Viele stehen vor der Herausforderung, Kapital nachschießen zu müssen. Aber wie soll das funktionieren? Fremdkapital zu bekommen, ist schwierig geworden, weil die Banken nach den jüngsten Turbulenzen im Finanzsektor zurückhaltend bei ihrer Kreditvergabe geworden sind. Und die Eigentümer*innen sind selten in der Lage „mal eben“ das Stamm- oder Aktienkapital aus der Privatschatulle zu erhöhen. Da schließt sich dann der Kreis zum Thema Resilienz.

Bis zum Krieg in der Ukraine war das Thema Digitalisierung in aller Munde. Speziell dem Mittelstand wurde immer wieder Nachholbedarf attestiert. Wie sieht es da inzwischen aus?

Auch hier gilt: Das hängt vom Einzelfall ab. Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein. Es muss ein Business-Case daraus werden. Digitalisierung deckt zudem ein breites Spektrum ab. Das reicht von Effizienzgewinnen über schnellere Prozesse bei Produktion und Entwicklung bis hin zu Schnittstellen gegenüber Kunden. Und schließlich gilt es, über neue Geschäftsmodelle nachzudenken – etwa Onlineplattformen für eigene und gegebenenfalls fremde Produkte aufzubauen oder selbstentwickelte Softwaretools als Zubehör anzubieten. Das heißt im Ergebnis: Unternehmen müssen darüber nachdenken, wie sie auf neuen, digitalen Wegen ihren Kund*innen helfen können.

Wie sollten sich Aufsichts- und Beiräte daran beteiligen?

Aus Sicht der Aufsichtsräte geht es darum, all diese Themen zu verstehen und sich auch damit auseinanderzusetzen, dass in vielen Bereichen zunehmend Wettbewerber aus branchenfremden Bereichen auf den Markt drängen. Sonst können sie keine angemessenen Sparringspartner für das Management sein. Das Thema Software und Automotive ist ein gutes Beispiel dafür. Zusätzlich gilt es, sich gerade bei komplexen Themen mit verschiedensten Facetten zu beschäftigen, um die Geschäftsführung fordern und Prioritäten etwa bei einer Digitalisierungsstrategie hinterfragen zu können. Das geht nur, wenn entsprechendes Know-how vorhanden ist.

Was, wenn das nicht der Fall ist?

Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese Herausforderung zu meistern. Die erste ist, sich entsprechende Expert*innen in den Aufsichts- oder einen Beirat zu holen. Das ist sicherlich das Mittel der Wahl, bevor man mit Bordmitteln arbeitet und sich irgendwie selbst schlaumacht. Im Zweifel kann die Strategie auch so aussehen, am Anfang auf externe Berater*innen zu setzen und dann zu überlegen, wie man den Aufsichtsrat umgestaltet. Aber da sprechen wir ein ganz wichtiges Thema an: Aufsichtsräte sollten sich ein Kompetenzprofil geben und sich innerhalb des Gremiums abstimmen, welche Themen und Funktionen sie damit abdecken. Für die Themen Finanzen und Rechnungswesen werden inzwischen Kenntnisse als notwendige Kernkompetenzen im Aufsichtsrat verlangt, ebenso wie die Einrichtung eines Prüfungsausschusses. Bei anderen Themenbereichen erscheint mir ein analoges Vorgehen sinnvoll. Im Einzelfall muss man sich dann vielleicht auch mal tief in die Augen schauen und sich fragen: Sind wir eigentlich noch richtig aufgestellt?

Können die jeweils eigenen Netzwerke der Aufsichtsräte dabei helfen?

Auf jeden Fall. Ich vernetze im Moment die Menschen, mit denen ich intensiv zusammenarbeite, sehr bewusst untereinander. Ich halte es auch für sinnvoll, auf das Netzwerk der entsprechenden Leute, die man sich ins Unternehmen oder speziell in den Aufsichtsrat reinholt, zu schauen. Das sind dann im Ergebnis idealerweise Netzwerke in verschiedenen Ausprägungen, die unmittelbar auf das Unternehmen einzahlen – zum Beispiel auf das Thema Lieferketten oder erste Erfahrungen mit dem neuen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Daraus können Firmen dann lernen.

Stichwort Abstimmung. Die Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex empfiehlt, dass Gremien dafür auch hybride Formate nutzen. Wird das nach Ihren Beobachtungen bereits gemacht?

Ja. Ich sehe im Moment eindeutig den Trend zu Hybrid- und Bridgeformaten. In allen Beiräten, in denen ich Mitglied bin, gibt es regelmäßige persönliche Treffen, und wir haben zwischendurch auch digitale Videokonferenzen, wenn es aktuelle Anlässe gibt oder es sinnvoll erscheint. So halten wir uns ständig auf dem Laufenden.

„Ökosystem“ ist ein Stichwort, das bei Diskussionen über Unternehmensstrategien immer wieder fällt. Für wie wichtig halten Sie den Aufbau dazu passender Strukturen?

Ich glaube, die Bedeutung von Ökosystemen wird sich schon von den erforderlichen Kompetenzen im Unternehmen her potenzieren. Sie sind aus meiner Sicht eine Chance für Unternehmen, sich darüber bewusst zu werden, wo genau sie ihre Kernkompetenzen sehen und wie sie dieses Profil stärken können. Dazu gehört auch, sich zu überlegen, mit welchen Produkten sie in Zukunft Geld verdienen wollen und wie viele Ressourcen sie auf einer granularen Ebene investieren wollen, um sie weiterzuentwickeln und zu optimieren – und was über Bord geht. Vor diesem Hintergrund sehe ich das Thema Komplexität, das dazu führen wird, dass Unternehmen innerhalb von Ökosystemen stärker miteinander zusammenarbeiten. So können sie im Rahmen ihrer Strategieprozesse auch besser entscheiden, wie viel ihrer gesamten Wertschöpfungskette sie selbst abdecken wollen und was sie von Partnern machen lassen.

Dafür brauchen sie zwingend Ökosysteme?

Nicht unbedingt, aber das Gute an ihnen ist: Sie sind eine Möglichkeit, engen Kontakt zur Branche zu halten, Trends zu antizipieren und in die Zukunft zu schauen. So helfen sie Aufsichtsrat und Geschäftsführung, sich Inspirationen zu holen, Szenarien zu entwickeln, Risiken zu identifizieren – und so das Unternehmen auf Kurs zu halten.

Autorin

Isabel Hartung ist aktuell Mitglied in Beiräten mehrerer Unternehmen. Die diplomierte Volkswirtin besitzt langjährige Erfahrung als Beraterin, Businessbuilderin in der Beratung und in verantwortlicher Stellung in Konzernen und mittelständischen Unternehmen. Hartung ist „qualifizierter Aufsichtsrat und qualifizierter Beirat“ der Deutschen Börse und „zertifizierte Aufsichtsrätin/Beirätin“ der Augsburg Business School. Beim Maschinenbauunternehmen TRUMPF begleitete sie u. a. die kulturelle und digitale Transformation und war Mitglied des Boards des TRUMPF Venture Capital Fonds.

 

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