Wann werden Finanzprozesse autonom?

Die rasante Entwicklung bei den KI-Systemen verändert in Unternehmen vieles. Einschneidende Veränderungen wird es dort geben, wo vor allem Routine-Aufgaben auf der Basis sehr klarer Vorgaben, Vorschriften und Gesetze ausgeführt werden. Allen voran der Finanzbereich könnte sich radikal verändern.

Einer aktuellen Umfrage des US-amerikanischen Marktforschungsunternehmens Gartner zufolge glauben 44 Prozent der CFOs weltweit, dass autonome Finanzabteilungen innerhalb der nächsten sechs Jahre Realität sein werden. In diesen Abteilungen steuern und betreiben selbstlernende Software-Systeme die Prozesse und Aktivitäten. Menschliche Mitarbeit und Kontrolle soll nur noch in Ausnahmefällen geschehen.

Eine autonome Finanzabteilung ist nicht nur automatisiert, sie liefert auch Echtzeit- und Prognose-Informationen und erfüllt in der Regel alle Compliance-Vorgaben. Wie fern ist diese Zukunft noch? „Schon heute sind viele Prozesse in Unternehmen automatisiert oder teilautomatisiert“, sagt Christian Sengewald, Wirtschaftsinformatiker und Partner bei Mazars in Deutschland. „Dennoch ist in vielen Fällen und Prozessen immer noch der Mensch zu einem gewissen Teil involviert, um beispielsweise Sonderfälle, die die Maschine regelbasiert noch nicht bearbeiten kann, abzufangen oder aber die automatisierten Prozesse zu validieren.“

Fachkräftemangel befeuert den KI-Siegeszug im Finanzwesen

Außer von der rasanten technischen Entwicklung bei den selbstlernenden KI-Systemen wird der Weg hin zu autonomen Finanzabteilungen aber auch von einem menschlichen, respektive gesellschaftlichen Faktor getrieben werden: „Der aus dem demografischen Wandel resultierende Fachkräftemangel wird fast natürlicherweise dazu führen, dass Unternehmen nicht nur mehr automatisieren, sondern diese Automatisierung auch stärker zu autonomen Prozessen weiterentwickeln“, sagt Mazars Experte Christian Sengewald.

Laut aktuellen Vorausberechnungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Deutschland, also Personen zwischen 20 und unter 65 Jahren, bereits bis zum Jahr 2030 um 3,9 Millionen auf einen Bestand von 45,9 Millionen Menschen sinken. Im Jahr 2060 sind dann 10,2 Millionen weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter. Das entspricht rund einem Drittel weniger Arbeitnehmer*innen als heute.

„Schon heute sind die ersten Auswirkungen in vielen Bereichen zu spüren“, sagt Christian Sengewald. Für viele Tätigkeiten ist es schwer, fachlich qualifizierte Arbeitnehmer*innen zu rekrutieren. Unternehmen müssen Mitarbeiter*innen zunehmend mehr bieten, um auf einem Markt mit knappen Arbeitskräften Stellen besetzen zu können. „Das erhöht den Kosten- und Margendruck. Menschliche Arbeit wird dadurch teurer und muss sich stärker auf Wertschöpfung fokussieren“, weiß Mazars Experte Sengewald. „Entsprechend wird dadurch die Automatisierung angetrieben.“

Einfache Tätigkeiten übernimmt die KI, schwierige bleiben „menschlich“

Schreitet in Finanzabteilungen die Automatisierung stärker voran, ist es möglich, die zurückgehende Verfügbarkeit von menschlichen Buchhalter*innen zu kompensieren. „Es wird eine Verschiebung geben hin zu spezialisierten Teams, die hoch spezifische Sonderfälle bearbeiten“, sagt Sengewald. „Dazu gehört die Pflege von Produkt- oder Geschäftspartnerstammdaten, die Rechnungseingangs- oder -ausgangsverarbeitung inklusive der Kontierung, Bildung von Rückstellungen und vieles mehr. Das Tagesgeschäft kann und wird autonom erfolgen.“

Doch Autonomisierung sollte nicht zu Entlassungen führen. „Das Fachwissen wird nicht entbehrlich. Vielmehr geht es darum, menschliche Arbeitskraft auf ein neues Niveau zu heben und die Kreativität zu nutzen. Der Schwerpunkt wird ganz eindeutig auf wertschöpfenden Initiativen der Arbeitnehmer*innen liegen“, so Sengewald.

Ein weiterer großer Entwicklungsschritt ergibt sich auch mit Blick auf die Pflicht zur elektronischen Rechnungsstellung. Voraussichtlich zum 1. Januar 2025 beginnend, mit Übergangsregeln bis 2028, ist dann für B2B-Geschäfte die elektronische Abwicklung obligatorisch. Das treibt wiederum in vielen Fällen die weitere Automatisierung auf debitorischer und kreditorischer Seite und stellt einen weiteren Baustein für die autonome Abwicklung dar.

Neben der Klärung von hoch spezifischen Sonderfällen liegt die Hauptaufgabe der Buchhalter*innen wohl künftig darin, das Lernen der Maschinen zu betreuen und zu überwachen. Je besser die Lernvorgaben für die Systeme sind, umso eher können künftig auch Reporting und Konsolidierung automatisiert ablaufen – Tätigkeiten, die jetzt noch sehr viele menschliche Ressourcen binden.

Um dorthin zu gelangen, sollten Unternehmen ein klares Zielbild definieren. „Operative Prozesse müssen neu gedacht und in einem entsprechenden Target-Operating-Modell formuliert und umgesetzt werden“, sagt Christian Sengewald. „Aus einem solchen Zielbild ergibt sich eine klare Roadmap für die Umsetzung im Unternehmen, denn eine Standardlösung gibt es nicht.“

Wie der Weg zur autonomen Finanzabteilung sinnvoll beginnt, erfahren Sie in Kürze im zweiten Teil unserer Serie.