Braindrain: Wenn mit den Älteren das Wissen die Firma verlässt

In den kommenden Jahren geht bei fast allen Unternehmen ein Großteil der Belegschaft in den Ruhestand. Damit verlieren die Firmen viel Fachwissen und Erfahrung, die nur schwer ersetzt werden können. Lesen Sie, wie Aufsichtsräte systematisch den Wissenstransfer und das Wissensmanagement anschieben und steuern sollten.

Weil wegen der geburtenschwachen Jahrgänge nicht ausreichend viele junge Arbeitskräfte nachkommen, wird laut Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) die Fachkräftelücke bis zum Jahr 2030 auf rund sechs Millionen Erwerbstätige wachsen. Viel gravierender als der Verlust an personellen Kapazitäten droht viele Betriebe aber der Wissensverlust zu treffen, der mit der Welle der Ruheständler*innen einsetzt. Das Geschäftsrisiko dieses Braindrains ist umso größer, je stärker das Geschäftsmodell auf das Know-how der Mitarbeiter*innen angewiesen ist.

Die digitale Transformation, die ohnehin viele Unternehmen durchlaufen, kann dabei helfen, Wissensverlust zu vermeiden. „In jedem Unternehmen stellt sich die dringende Frage, was man grundsätzlich ändern muss, um nicht nur das Geschäftsmodell, sondern auch die Arbeitsprozesse zu gestalten“, sagt Dr. Leo Schmidt, bei Mazars Experte für digitale Transformation. „Wir müssen uns damit befassen, was sich durch die Digitalisierung für die Märkte und auch für uns als Beschäftigte verändert – und welche Herausforderungen und Chancen damit verbunden sind.“

Schneller wachsen mit weniger Personal

Dabei geht es nicht nur um die Frage des Personals. Der Mazars Experte sieht viele Branchen derzeit mit einer „Wachstums-Asymmetrie“ konfrontiert: Während die Unternehmen die altersbedingten Abgänge ersetzen müssen, entstehen gleichzeitig aufgrund gesellschaftlicher und regulatorischer Veränderungen enorme Herausforderungen für Unternehmen, z. B. in den Bereichen ESG, Datensicherheit und digitale Transformation. Um diese Themen effektiv bearbeiten zu können, muss ständig neues Wissen generiert werden und es entstehen komplett neue Rollen in den Unternehmen, welche diese neuen Themen bearbeiten. Firmen müssen also altersbedingtem Braindrain begegnen und gleichzeitig völlig neuartige Kompetenzen aufbauen.  

„Die Finanzberatung ist ein gutes Beispiel. Durch neue gesetzliche Regelungen gibt es im Beratungssegment eine Verschiebung von den bisher großen vier Gesellschaften auf eine größere Zahl von Dienstleistern. Gleichzeitig wünschen sich die Unternehmen mehr Diversität in der Dienstleistung. Da ist es gleich, ob es sich um handwerkliche Dienstleistungen auf dem Shopfloor oder finanznahe Dienstleistungen handelt“, beschreibt Dr. Leo Schmidt die Situation. Um mit diesen veränderten Bedingungen schritthalten zu können, müssen Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Buchhaltungsdienstleister beispielsweise viel schneller neue Kompetenzen erwerben, als sie es bisher gewohnt waren. Und das mit perspektivisch weniger verfügbarem Personal und einem erhöhten Bedarf an vorhandenem Wissen und neuer Expertise.

„Man muss deshalb sowohl an neuen Methoden der Wissenskonservierung arbeiten als auch den Zugang zu Wissen neu gestalten. Unternehmen müssen gewissermaßen eine ‚Schwarmintelligenz‘ entwickeln“, erläutert Schmidt. Dazu sei die Menschheit zwar nur bedingt in der Lage, „trotzdem haben wir es über Jahrtausende geschafft, mit Hilfsmitteln wie Schriftgut, dem Buchdruck in Form von Handbüchern oder Gesetzen, dann durch Informationstechnologien und das Internet Wissen zu konservieren und immer breiter zugänglich zu machen“. Nun gehe es darum, neueste technische Möglichkeiten – und hier allen voran smartes Datenmanagement und generative KI – geschickt einzusetzen, um dem Braindrain aus den Unternehmen entgegenzuwirken und neue Expertenprofile zu stärken.

Historische Formen des Wissenstransfers versagen im Zeitalter der KI

„Die große Herausforderung ist, dass wir nicht mehr nur auf historische Wissenstransfermechanismen bauen, wie sie in vielen Branchen seit langer Zeit existieren“, sagt Schmidt. In vielen Unternehmen, auch in nicht handwerklich geprägten Branchen, geben „Meister“ ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und ihre Expertise in der Regel an die anderen Beschäftigten kontinuierlich weiter. Dadurch war es bisher möglich, Wissen und Können generationenübergreifend zu halten und weiterzuentwickeln. „Die Medizin ist ein gutes Beispiel: Nicht jede Generation von Mediziner*innen muss von Grund auf alle Forschung neu erarbeiten. Wir haben also bereits Antworten auf die Frage des Wissenserhalts. Aber: Diese Strategien passen nicht mehr mit der beschriebenen Wachstums-Asymmetrie zusammen.“

Neben dem Wissenstransfer bedingt der umfassende Transformationsprozess den Aufbau bisher noch gar nicht vorhandenen Wissens in Unternehmen. „Die Herausforderung ist hier, dies mithilfe der neuen Technologien gleich so aufzubauen, dass Expertise nicht nur von einzelnen Personen abhängt, sondern breit im Unternehmen verfügbar und neuartig kombinierbar ist.“

Demokratisierung des Wissens

Noch einmal zieht Dr. Leo Schmidt den Vergleich zur Medizin: „Hier sehen wir schon jetzt, dass künstliche Intelligenz in der Diagnostik eingesetzt wird. Somit sind nicht mehr nur die Koryphäen für bestimmte Krankheitsbilder in der Lage, diese zu erkennen. Wissen ist hier digital konserviert, um es allen Diagnostiker*innen zur Verfügung zu stellen.“

Einen ähnlichen Ansatz sollten Professionen auch in anderen Branchen wählen. Ein System von Akademieformaten, in denen skalierbar digital replizierbare Wissensbildung liegt und über das Wissen aufgebaut werden kann, kombiniert mit einer KI-unterstützten Schwarmintelligenz für den Arbeitsprozess. „Vorstellbar ist eine Art GPT mit Generationswissen. Ein System, das man etwas fragen kann und das dann nicht nur die frei zugänglichen Informationen verarbeitet, sondern auch die relevanten Handbücher, Gesetzestexte, Aufsätze, Kommentare und Lerneffekte aus vorangegangenen Interaktionen mit der KI – alles, was in dem speziellen Arbeitskontext relevant ist und bei der Ausgabe der Antwort digital schon auf die Zielgruppe gerichtet ist“, beschreibt Experte Schmidt.

Und wie stellen sich Unternehmen dieser Entwicklung? Vor allem durch Technologieoffenheit. Die Probleme und Herausforderungen seien oft schon richtig erkannt und analysiert. „Vorstände und Boards sind sich aber oft nicht bewusst, dass die modernen Technologien hier der adäquate Lösungsansatz sein können, um diese Themen zu bearbeiten. Offenheit für die Chancen, die diese neuen Technologien bieten, und auch die Bereitschaft, entsprechende Prozesse ergebnisoffen anzustoßen, sind der beste Weg, die Herausforderungen zu meistern“, rät Dr. Leo Schmidt.

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