Organschaft: Neue EuGH-Vorlage zu Innenumsätzen, Rechtsprechungsänderung zur Stimmrechtsmehrheit

Nachdem der EuGH die beiden EuGH-Vorlagen „Finanzamt T“ und „Norddeutsche Diakonie“ entschieden hatte, konnte die Fachwelt aufatmen: Die Befürchtung, der EuGH könnte das deutsche Konzept der Organschaft insgesamt verwerfen, hat sich nicht bewahrheitet. Allerdings hat der EuGH die Nichtsteuerbarkeit von Innenleistungen nicht so deutlich bestätigt, wie es wünschenswert gewesen wäre. Daher legt der V. Senat des BFH den Fall „Finanzamt T“ erneut vor. Der XI. Senat hingegen veröffentlicht seine Folgeentscheidung im Fall „Norddeutsche Diakonie“ und passt sich der EuGH-Rechtsprechung an.

Fall „Finanzamt T“

Im Fall des V. Senats (Aktenzeichen EuGH: C-269/20, Aktenzeichen BFH erstes Vorlageverfahren: V R 40/19, zweites Vorlageverfahren V R 20/22) ging es um eine Stiftung als Organträgerin, die einen hoheitlichen und einen unternehmerisch tätigen Bereich hatte. Die Organgesellschaft U-GmbH erbrachte u. a. Reinigungsleistungen sowohl für den hoheitlichen als auch für den unternehmerischen Bereich der Stiftung. Der EuGH entschied im ersten Vorlageverfahren, es sei mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn nach deutschem Recht nicht eine Mehrwertsteuergruppe, sondern der Organträger Steuerpflichtiger sei. Außerdem verneinte der EuGH eine unentgeltliche Wertabgabe, wenn wie hier der unternehmerische Teil der Organschaft eine Leistung an den hoheitlichen Teil erbringt.

Ob Innenleistungen zwischen den Mitgliedern einer Organschaft steuerbar sind, hatte der BFH im ersten Vorlageverfahren nicht gefragt. Die Büchse der Pandora öffnete insoweit erst Generalanwältin Medina, indem sie in ihren Schlussanträgen die Ansicht vertrat, dies sei der Fall. In den beiden EuGH-Urteilen „Finanzamt T“ und „Norddeutsche Diakonie“ fand sich dann zwar die Aussage, die MwStSystRL schließe es aus, „[…] dass Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe […] innerhalb und außerhalb ihrer Gruppe weiterhin als Steuerpflichtige angesehen werden […]“. Ob damit die Steuerbarkeit von Innenleistungen vom Tisch sei, wird jedoch in der Fachwelt seitdem unterschiedlich beurteilt. Der V. Senat des BFH sah es als erforderlich an, die Frage nach der Steuerbarkeit von Innenleistungen aufzuwerfen und den Fall „Finanzamt T“ erneut dem EuGH vorzulegen.

Der V. Senat setzt sich in seinem Vorlagebeschluss eingehend mit den verschiedenen Aspekten auseinander, die insoweit bei der Auslegung der MwStSystRL Berücksichtigung finden müssen. Einige davon seien hier genannt:

Die Entstehungsgeschichte der Regelungen zur Organschaft spreche für die Steuerbarkeit der Innenumsätze: Als Deutschland die Organschaft eingeführt habe, habe das Umsatzsteuersystem noch keinen Vorsteuerabzug vorgesehen. Die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen sei demnach zwingend notwendig gewesen, um eine Steuerkumulation innerhalb verbundener Steuerpflichtiger zu vermeiden. Mit Einführung des Vorsteuerabzugs könnte damit der Sachgrund für die Nichtsteuerbarkeit von Innenleistungen weggefallen sein, so der V. Senat.

Die Organschaft verfolge außerdem das Ziel der Verwaltungsvereinfachung. Der V. Senat erörtert, dass jedenfalls die Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens es nicht erfordere, die Innenumsätze auszunehmen, denn diese Vereinfachung liege schließlich darin, dass nur eine einzige Steuererklärung für den gesamten Organkreis abgegeben werden müsse. Daran würde sich aber nichts ändern, wenn diese Steuererklärung auch die Innenumsätze umfasste.

Ob die Organschaftsregelung der MwStSytRL auch eine materiell-rechtliche Vereinfachung bezwecke, indem Innenumsätze dem Anwendungsbereich der Steuer entzogen werden, erscheint für den V. Senat fraglich, denn wenn der Empfänger der Innenleistung nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, führt die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen faktisch zu einer Nichtbesteuerung. Da manche Mitgliedstaaten von der Ermächtigung zur Einführung einer Organschaft Gebrauch gemacht haben, andere hingegen nicht, könnte dies zu Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU führen. Daher möchte der V. Senat außerdem geklärt wissen, ob es für die Steuerbarkeit von Innenumsätzen eine Rolle spielt, ob der Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt ist – denkbar erscheint für den V. Senat, dass der EuGH die Nichtbesteuerung der Innenumsätze nur für den Fall akzeptiert, dass sich Ausgangssteuer und Vorsteuer ohnehin ausgleichen. Da in Deutschland die Organschaft bislang ein beliebtes Mittel zur Vorsteueroptimierung ist, wäre den Steuerpflichtigen mit einem solchen Kompromiss allerdings kaum gedient. Außerdem müsste die Vorsteuerabzugsberechtigung dann stets geprüft werden, was dem Vereinfachungszweck der Organschaft zuwiderliefe.

Dass Innenumsätze steuerbar sind, sei auch mit dem derzeitigen Wortlaut von § 2 Abs. 2 UStG vereinbar, denn die Norm sei in diesem Sinne unionsrechtskonform auslegungsfähig. Zwar seien nach dieser Vorschrift Mitglieder einer Organschaft „nicht selbstständig“, aber damit werde nur auf die gemeinsame Steuererklärung abgezielt. Dass die Wirkungen der Organschaft nach dem Wortlaut von § 2 Abs. 2 UStG „auf Innenleistungen zwischen den im Inland belegenen Unternehmensteilen beschränkt“ sind, ficht den V. Senat ebenfalls nicht an. Hiermit habe der Gesetzgeber nicht die Steuerbarkeit von Innenleistungen begründen, sondern nur die Organschaft auf das Inland beschränken wollen.

Fall „Norddeutsche Diakonie“

Der XI. Senat des BFH hatte dem EuGH den Fall „Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH“ vorgelegt (Aktenzeichen EuGH: C-141/20, Aktenzeichen BFH Vorlageverfahren: XI R 16/18, Wiederaufnahme: XI R 29/22), bei dem der Organträger zwar mit 51 Prozent die Anteilsmehrheit an der Organgesellschaft hielt, aber nicht über die Mehrheit der Stimmrechte verfügte. Die Geschäftsführer*innen von Organträger und Organgesellschaft waren identisch.

In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte der BFH stets gefordert, dass der Organträger an der Organgesellschaft eine Mehrheitsbeteiligung besitzen und außerdem über die Stimmrechtsmehrheit verfügen muss, damit die finanzielle Eingliederung bejaht werden kann. Im Fall „Norddeutsche Diakonie“ hat der EuGH aber entschieden, dass die Stimmrechtsmehrheit von den Mitgliedstaaten nicht gefordert werden darf.

Der BFH gibt daher seine bisherige Rechtsprechung für den Fall der fehlenden Stimmrechtsmehrheit einerseits ausdrücklich auf, betont aber anderer Stelle, es sei doch „im Grundsatz“ daran festzuhalten. Er bezieht sich darauf, dass finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung nicht gleichermaßen stark ausgeprägt sein müssen. Daher sei es gerechtfertigt, eine Mehrheitsbeteiligung trotz Stimmrechten von nur 50 Prozent als lediglich schwächer ausgeprägte finanzielle Eingliederung anzusehen, wenn wie vorliegend Personenidentität in den Geschäftsführungsorgangen besteht. In dieser Konstellation könne der Organträger seinen Willen durchsetzen und mit seinen Stimmrechten eine abweichende Weisung durch die Gesellschafterversammlung verhindern (was der BFH in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht für ausreichend hielt). Der XI. Senat weist darauf hin, dass sich am Erfordernis der eigenen Mehrheitsbeteiligung nichts ändere und damit eine Organschaft zwischen Schwestergesellschaften weiterhin nicht in Betracht komme.

Für Stimmrechtsquoten unter 50 Prozent dürfte angesichts der Argumentation des XI. Senats die finanzielle Eingliederung damit auch in Zukunft nicht vorliegen, da der Organträger damit abweichende Entscheidungen bei der Organgesellschaft nicht verhindern kann.

Einordnung

Durch die erneute Vorlage des Falls „Finanzamt T“ wegen der Innenleistungen kommt keine Ruhe in das Organschaftsthema. Sollten Innenleistungen steuerbar sein, wäre das ein erheblicher Einschnitt in die deutsche Praxis und die Organschaft wäre als Mittel zur Vorsteueroptimierung untauglich. Die Generalanwältin hatte diese These mit großem Selbstbewusstsein vertreten, während der EuGH sich dazu sehr kurz und uneindeutig geäußert hat, sodass eine Klarstellung unbedingt erforderlich ist.

Wegen der geänderten Rechtsprechung hinsichtlich des Erfordernisses der Stimmrechtsmehrheit im Fall „Norddeutsche Diakonie“ sollten Steuerpflichtige gesellschaftliche Strukturen mit mehreren Ebenen unbedingt erneut auf den Prüfstand stellen. Unter Umständen besteht nun eine Organschaft, von der man zuvor mangels Stimmrechtsmehrheit nicht ausgegangen ist. Da Urteile kein neues Recht schaffen, sondern im Prinzip lediglich erstmals erkennen, was immer schon galt, wären solche Strukturen auch für die Vergangenheit als Organschaften zu behandeln. Da sich hier die Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts geändert hat, wäre allerdings zu prüfen, ob gem. § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO Vertrauensschutz in Anspruch genommen werden kann.

Stand: 28. März 2023