Strenge Haltung beim Vorsteuerabzug in Hinterziehungsfällen - EuGH-Urteil "HR" (C-108/20)

Dass der Vorsteuerabzug versagt werden kann, wenn der Unternehmer an einer Steuerhinterziehung beteiligt ist, ist nicht neu. Der EuGH betont im Beschluss vom 14. April 2021 (C-108/20 in der Rechtssache „HR“) aber nochmals, dass bloßes „wissen müssen“ bzgl. der Steuerhinterziehung auf einer Vorstufe dafür ausreicht. Für die Unternehmer ergeben sich daraus erhebliche Sorgfaltspflichten.

In dem Fall, den der EuGH zu entscheiden hatte, betrieb HR einen Getränkegroßhandel. Sie bezog Getränke von der P GmbH, die ihrerseits vom Ehemann der HR beliefert wurde. Der Ehemann stellte der P GmbH hierfür keine Rechnungen aus. Die P GmbH machte in Bezug auf diese Einkäufe zu Unrecht den Vorsteuerabzug aus von einem seiner Mitarbeiter erstellten Scheinrechnungen geltend. Das Finanzamt versagte nach Aufdecken dieses Sachverhalts nicht nur der P GmbH den Vorsteuerabzug, sondern auch HR: Sie sei mit ihrem Unternehmen Teil der Lieferkette gewesen, in der die Umsatzsteuerhinterziehungen begangen worden seien. HR erhob Klage zum Finanzgericht, welches den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte. Es sollte geklärt werden, ob HR der Vorsteuerabzug allein deshalb zu versagen sei, weil sie von der Steuerhinterziehung auf der Vorstufe wusste oder hätte wissen müssen, oder ob hierfür eine aktive Beteiligung an der Steuerhinterziehung erforderlich sei.

Aktive Beteiligung an Hinterziehung auf der Vorstufe ist nicht erforderlich

Der EuGH befand, dass sich die Antwort auf diese Frage zweifelsfrei aus der bisherigen Rechtsprechung ergebe, und entschied aus diesem Grund nicht durch Urteil, sondern (nur) durch Beschluss. Er verwies unter anderem auf die Urteile in den Rechtssachen Kittel und Recolta Recycling (C-439/04 und C-440/04, 6. Juli 2006), Mahagében und Dávid (C-80/11 und C-142/11, 21. Juni 2012) und Glencore Agriculture Hungary, (C- 189/18, 16. Oktober 2019). Demnach ist der Vorsteuerabzug nicht nur dann zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz (auch auf einer vorhergehenden Stufe) teilnahm, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war. Dies muss aufgrund objektiver Umstände feststehen – eine verschuldensunabhängige Haftung wäre unverhältnismäßig. Es bedarf allerdings keines Nachweises dafür, dass der Steuerpflichtige die Steuerhinterziehung aktiv gefördert oder begünstig habe.

Finanzverwaltung unbestimmt in ihren Anforderungen

Die Finanzverwaltung konkretisiert diese Rechtsprechung in Abschnitt 15.2 Abs. 2 S. 5 und 6 UStAE dahingehend, dass ein Unternehmer das Recht auf Vorsteuerabzug dann nicht verliert, wenn er alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht in einen Betrug einbezogen sind. Dies erfordert, dass er von dem Betrug weder wusste noch wissen konnte.

Empfehlung: Tax Compliance Management System

Die Forderung, dass vernünftigerweise zu verlangende Maßnahmen ergriffen werden müssen, ist stark auslegungsbedürftig und dadurch für Unternehmer mit großer Unsicherheit verbunden. Insbesondere bei langen Lieferketten ist es schwierig, über jede Vorstufe Bescheid zu wissen – inwiefern dies „vernünftigerweise“ verlangt werden kann, hängt sicher vom Einzelfall ab. In dem hier besprochenen EuGH-Fall scheint eine Rolle gespielt zu haben, dass der Steuerhinterzieher zwar nicht unmittelbar an HR geliefert hat, aber ihr Ehemann war. Um sich im Fall des Falles exkulpieren zu können, empfehlen wir, besonderes Augenmerk auf innerbetriebliche Kontrollverfahren zu legen, bei denen Identität und Integrität von neuen Lieferanten geprüft werden – anhand der USt-ID und ggf. weiterer Quellen. Ergeben sich bei dieser routinemäßigen Prüfung Zweifel, sollte sie vertieft werden, z. B. indem Übertragungsprotokolle der Umsatzsteuervoranmeldungen angefordert werden. Auch bekannte Lieferanten, die plötzlich ihr Handelsvolumen stark erhöhen, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Ein auf diese Weise aufgesetztes Tax Compliance Management System kann geeignet sein, die Finanzverwaltung von der gebotenen Sorgfalt zu überzeugen.

(Stand: 10. Mai 2021)