19.06.2020 – Mit seinem Urteil vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18) hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Aufsehen erregende Entscheidung getroffen, wonach Arbeitgeber verpflichtet werden, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einzurichten, mit welchem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen bzw. erfasst werden kann.

Die Entscheidung des EuGH wurde überwiegend dahingehend verstanden, dass es Sache der Mitgliedstaaten bzw. deren Gesetzgeber ist, die EU-rechtlichen Vorgaben umzusetzen. In erster Linie treffe daher die Mitgliedstaaten eine Handlungsverpflichtung, die Arbeitgeber müssten hingegen erst tätig werden, wenn die Entscheidung des EuGH in nationales Recht umgesetzt werde bzw. § 16 Abs. 2 ArbZG richtlinienkonform ausgelegt worden sei. Teilweise wurde und wird allerdings auch diskutiert, ob die Entscheidung des EuGH unmittelbare Wirkung hat und insoweit von den Arbeitgebern bereits umgesetzt werden müsste.

Das Arbeitsgericht Emden hat sich in seiner Entscheidung vom 20. Februar 2020 (Az. 2 Ca 94/19) – soweit ersichtlich – als erstes deutsches Arbeitsgericht mit der Entscheidung des EuGH auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Einrichtung eines Zeiterfassungssystems durch den Arbeitgeber bereits unmittelbare Pflicht des Arbeitgebers ist.

Unmittelbare Verpflichtung zur Einrichtung eines Zeiterfassungssystems

Konkret ging es in der Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden um die Geltendmachung von Vergütungsansprüchen. Der Kläger, ein Bauhelfer, nahm den Beklagten, seinen ehemaligen Arbeitgeber, nach einer mehrwöchigen Tätigkeit unter anderem auf vermeintlich noch ausstehende Vergütung in Anspruch. Der Kläger behauptete, insgesamt 195,05 Stunden gearbeitet zu haben. Zum Nachweis verwies er auf von ihm erstellte handschriftliche Aufzeichnungen („Stundenrapporte“).

Der Beklagte bestritt den zeitlichen Umfang der vom Kläger behaupteten Arbeitsleistung und verwies darauf, dass die Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit (Arbeitsbeginn und Arbeitsende) mittels eines Bautagebuchs erfolgt sei. Die Stunden seien gegen Ende des Arbeitsverhältnisses vom Kläger und vom Beklagten gemeinsam erfasst worden. Dieses Bautagebuch weise eine tatsächlich zu entlohnende Stundenanzahl von 183 Stunden aus. Der Beklagte hatte insoweit auch nur 183 Stunden vergütet.

Das Arbeitsgericht Emden stellt zunächst auf die Darlegungs- und Beweislast in Überstundenprozessen ab. Danach müsse zunächst der Arbeitnehmer konkret darlegen und beweisen, welche Arbeitsstunden er wann in welchem Zeitraum geleistet habe bzw. wann er sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten habe. Im Anschluss sei es Sache des Arbeitgebers, detailliert und substantiiert darzulegen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen habe und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen – ggfs. nicht – nachgekommen sei (sog. sekundäre Darlegungslast). Soweit sich der Arbeitgeber hierauf nicht substantiiert einlasse, gelte der Sachvortrag des Arbeitnehmers gemäß § 138 ZPO als zugestanden.

Der Kläger sei der ihn treffenden Darlegungslast in ausreichendem Maße nachgekommen. So habe er unter Vorlage von Eigenaufzeichnungen die seinerseits geleisteten Arbeitszeiten im streitgegenständlichen Zeitraum im Einzelnen vorgetragen. Der Vortrag des Beklagten sei hingegen nicht ausreichend substantiiert, sodass die seitens des Klägers vorgetragenen Arbeitszeiten als zugestanden gälten. 

Das Arbeitsgericht stellte weiter fest, der Beklagte habe gegen die ihn gemäß Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta (GrCh) unmittelbar treffende Verpflichtung zur Einrichtung eines „objektiven“, „verlässlichen“ und „zugänglichen“ Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit des Klägers verstoßen. Der Beklagte habe für den Kläger kein entsprechendes System eingerichtet und daher auch keine objektiven und verlässlichen Daten vorlegen können, aus denen sich die Erfüllung dieser (EU-rechtlichen) Verpflichtung ergebe und anhand derer sich die Arbeitszeiten des Klägers nachvollziehen lassen würden. Die genannte Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeiten treffe den Arbeitgeber aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 GrCh, ohne dass es hierzu einer richtlinienkonformen Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG oder einer Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber bedürfe.

Die aus Art. 31 Abs. 2 GrCh folgende Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung sei als vertragliche Nebenpflicht im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB zu klassifizieren, nach welchem die Arbeitsvertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen Vertragsteils verpflichtet seien. 

Die Auswertungen des Bautagebuchs seien jedenfalls nicht ausreichend. Es handele sich hierbei schon von vornherein nicht um ein System zur tatsächlichen Erfassung der geleisteten Arbeitszeiten. Die Aufzeichnungen dienten vielmehr gemäß § 34 der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI) der Berechnung der Entgelte für die Grundleistungen der Architekten und Ingenieure.

Praxishinweis

Festzuhalten ist zunächst, dass es sich bei dem Urteil des Arbeitsgerichts Emden um die bislang erste und einzige Entscheidung eines deutschen Arbeitsgerichts zum Urteil des EuGH handelt. Es ist insoweit damit zu rechnen, dass noch weitere Entscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit – auch abweichende – folgen werden. Die Auffassung des Arbeitsgerichts Emden ist jedenfalls nicht zwingend, allerdings ist die Entscheidung nach Auskunft des Arbeitsgerichts Emden mittlerweile rechtskräftig. Zudem wurde die Frage, wie das Zeiterfassungssystem konkret ausgestaltet sein muss, offengelassen, sodass diesbezüglich nach wie vor Rechtsunsicherheit besteht.

Im Bereich der Gesundheitsbranche, insbesondere bei Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen mit Tarifanwendung, dürften meist hinreichende Zeiterfassungssysteme bestehen. Allerdings stehen auch bei diesen Einrichtungen im Hinblick auf die „Arbeitszeit“ aufgrund der generell zunehmenden Bedeutung der Aspekte des Arbeitsschutzes unserer Wahrnehmung nach Themen wie z. B. die richtige Erfassung von Überstunden oder die tarifgemäße Erfassung von Arbeitszeiten im Schichtdienst stärker im Fokus.

Gleichwohl ergibt sich aber möglicherweise bezogen auf Führungskräfte, kleinere nicht tarifgebundene Einrichtungen, Praxen, MVZ etc. Handlungsbedarf, da das Risiko besteht, dass Arbeitnehmer sich auf die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden berufen werden.

Zudem zeigt die Entscheidung, dass Arbeitgeber aufgrund der niedrigen Hürden an die Darlegungs- und Beweislast der Arbeitnehmer darauf achten müssen, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter möglichst genau und konkret zu erfassen. Nur auf diese Weise können sie im Streitfall ihrer Darlegungs- und Beweislast nachkommen und wirtschaftliche Risiken vermieden werden. Dabei sollten Arbeitgeber – trotz der sich ergebenden Probleme (z. B. bei der Vertrauensarbeitszeit) – bereits jetzt die Vorgaben des EuGH beachten und bei ihrer Arbeitszeiterfassung die geforderte Objektivität, Verlässlichkeit und Zugänglichkeit berücksichtigen, um auf der sicheren Seite zu sein.

Autorin

Gudrun Egenolf
Tel: +49 30 208 88-1130
gudrun.egenolf@mazars.de

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