Vorsteuerabzug bei Ist-Versteuerung des Leistenden - EuGH-Urteil "Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße" (C-9/20)

Das deutsche Umsatzsteuerrecht regelt den Zeitpunkt, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, bei Eingangsleistungen von Ist-Versteuerern nicht explizit. Die Finanzverwaltung geht allerdings in Abschn. 15.2 Abs. 2 UStAE bis jetzt davon aus, dass der Vorsteuerabzug im Voranmeldungszeitraum des Leistungsbezugs geltend gemacht werden muss, und zwar auch dann, wenn der Leistende den Umsatz gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 lit. b), § 20 UStG mit Vereinnahmung des Entgelts versteuert. Dies erklärt der EuGH in seinem Urteil vom 10. Februar 2022 (C-9/20) für unionsrechtswidrig: Der Empfänger hat den Vorsteuerabzug bei Zahlung geltend zu machen, wenn der Leistende ein Ist-Versteuerer ist.

Sachverhalt: Grundstücksgemeinschaft mietet von einem Ist-Versteuerer

Die Grundstückgemeinschaft Kollaustraße 136 vermietete Grundstücke, die sie ihrerseits gemietet hatte. Sowohl die Grundstücksgemeinschaft, als auch die Vermieterin, hatten zur Umsatzsteuer optiert; eine ordnungsgemäße Dauerrechnung lag vor. Beide machten von der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten gem. § 20 UStG Gebrauch. Die Vermieterin hatte die Mietzahlungen teilweise gestundet, sodass die Grundstücksgemeinschaft die Mietzahlungen insoweit erst Jahre nach dem jeweiligen Vermietungszeitraum entrichtete.

Die Grundstücksgemeinschaft machte den Vorsteuerabzug für den Zeitpunkt der Zahlung geltend. Das Finanzamt argumentierte jedoch in Übereinstimmung mit der bisherigen Regelung im UStAE, der Vorsteuerabzug sei bei Leistungserbringung, also für den jeweiligen Mietzeitraum, geltend zu machen. Da die Zeiträume der Leistungserbringung teilweise festsetzungsverjährt waren, kam es dadurch zu einem endgültigen Verlust von Vorsteuern für die Grundstücksgemeinschaft.

EuGH: Vorsteueranspruch ist bei der Ist-Versteuerung an die Zahlung geknüpft

Das FG Hamburg legte dem EuGH die Frage vor, ob die deutsche Regelung, nach der auch bei Leistungsbezug von einem Ist-Versteuerer der Anspruch auf die Vorsteuer im Zeitpunkt der Leistung entsteht, mit Artikel 167 MwStSystRL vereinbar sei. Nach Artikel 167 MwStSystRL entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Trotz der Eindeutigkeit des Wortlauts warf das FG Hamburg in seiner Vorlage die Frage auf, ob es sich hierbei möglicherweise nicht um eine zwingende Vorgabe, sondern nur um eine „Leitidee“ handele. Dem folgte der EuGH nicht. Er verwies darauf, dass Artikel 167 MwStSystRL mit Artikel 66 Abs. 1 lit b) MwSystRL in Einklang zu bringen sei. Demnach können die Mitgliedstaaten (wie in Deutschland geschehen) vorsehen, dass der Steueranspruch spätestens mit der Vereinnahmung des Preises entsteht. Wenn der Steueranspruch demnach bei der Ist-Versteuerung mit Vereinnahmung des Preises entstehe, müsse dies auch für den Anspruch auf die Vorsteuer gelten.

Praktische Auswirkungen: Nur für den Leistungsempfänger

Bitte nicht verwechseln: Dieses Urteil betrifft nicht den Ist-Versteuerer selbst, sondern nur den Vorsteuerabzug seines Leistungsempfängers. Dass die Grundstücksgemeinschaft selbst ihre Ausgangsleistungen ebenfalls nach vereinnahmten Entgelten versteuert hat, war im vorliegenden Fall unerheblich. Zwar gibt es mit Artikel 167 a MwStSystRL auch eine Vorschrift, die den Vorsteuerabzug des Ist-Versteuerers selbst betrifft: Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, dem Ist-Versteuerer den Vorsteuerabzug erst dann zu gestatten, wenn er dem Leistenden die Umsatzsteuer bezahlt hat. Hiervon hat Deutschland allerdings keinen Gebrauch gemacht.

Das FG Hamburg wird voraussichtlich gemäß den Vorgaben des EuGH entscheiden, und es ist damit zu rechnen, dass das BMF den UStAE entsprechend anpassen wird – möglicherweise mit einer Nichtbeanstandungsregel für eine Übergangszeit. Solange dies nicht geschehen ist, werden die Finanzämter es wahrscheinlich akzeptieren, dass Leistungsempfänger eines Ist-Versteuerers den Vorsteuerabzug bereits bei Leistungsbezug geltend machen. Sollte dies unterblieben sein, kann der Vorsteuerabzug nun unter Berufung auf das EuGH-Urteil auch vor Änderung des UStAE für den Zeitpunkt der Zahlung geltend gemacht werden, wenn dies dem Finanzamt offengelegt wird. Nach Änderung des UStAE (und ggf. nach Ablauf einer Übergangsfrist) werden die Finanzämter den Vorsteuerabzug bei Leistungsbezug ablehnen; er kann dann für den Zeitpunkt der Zahlung nachgeholt werden und geht nicht verloren. Gegebenenfalls kann sich ein Zinseffekt ergeben.

Die Schwierigkeit besteht für die Leistungsempfänger darin, zu erkennen, dass der Leistende nach vereinnahmten Entgelten versteuert. Bislang müssen die Leistenden auf die Ist-Versteuerung nicht in der Rechnung hinweisen, weil Deutschland Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL nicht in das UStG übernommen hat. Hier sollte der Gesetzgeber aktiv werden.

(Stand: 09.03.2022)