Organschaft unter Beschuss - Schlussanträge "Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH" und "S" (C-141/20, C-269/20)

Zu zwei Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs (BFH) hat die Generalanwältin beim EuGH am 13. und 27. Januar 2022 ihre Schlussanträge gestellt. Nicht ganz überraschend kam sie zu dem Ergebnis, dass das deutsche Recht insoweit unionsrechtswidrig ist, als es anstelle der Mehrwertsteuergruppe den Organträger zum Steuerpflichtigen bestimmt. Im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH steht jedoch die These der Generalanwältin, Umsätze innerhalb der MwSt-Gruppe seien steuerbar.

Zwei EuGH-Vorlagen zur Organschaft

Sowohl der V. als auch der XI. Senat hatten dem EuGH einen Organschaftsfall zur Vorabentscheidung vorgelegt (beim EuGH geführt unter den Aktenzeichen C-141/20 und C-269/20). Im Kern ging es beide Male um die Frage, ob § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, der im deutschen Recht die Organschaft regelt, mit Artikel 4 bzw. heute Artikel 11 der MwStSystRL vereinbar sei: Nach deutschem Recht ist nicht die Mehrwertsteuergruppe (nach deutscher Lesart: der Organkreis), sondern nur der Organträger der Steuerpflichtige; die Organgesellschaften gelten als unselbständige Teile des Unternehmens des Organträgers.

BFH hat die schlimmsten Befürchtungen

Für den Fall, dass § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG unionsrechtswidrig sein sollte, hatte der BFH massive Steuerausfälle befürchtet: Organträger könnten nicht mehr besteuert werden, weil sie nicht Steuerpflichtige wären, und für eine Besteuerung der MwSt-Gruppe oder der Organgesellschaften fehle eine gesetzliche Grundlage.

Generalanwältin: Deutsches Recht verändert das Konzept der MwSt-Gruppe

Die Generalanwältin kam zu dem Schluss, dass das deutsche Recht, gemessen am Wortlaut der entsprechenden Regelung der MwStSystRL, zu restriktiv sei. Dass bei einer MwSt-Gruppe (nur) derjenige Steuerpflichtiger sei, der die Organgesellschaften beherrsche, ließe sich daraus nicht ableiten. Vielmehr sei die MwSt-Gruppe als solche Steuerpflichtiger. Eines der Mitglieder der Gruppe müsse gegenüber dem Finanzamt als Vertreter der Gruppe auftreten, Steuererklärungen abgeben und die Umsatzsteuer bezahlen. Dies müsse aber nicht unbedingt die beherrschende Gesellschaft sein – jedes Gruppenmitglied komme dafür in Frage. Überhaupt sei es für eine MwSt-Gruppe nicht erforderlich, dass ein Organträger die Organgesellschaften im Sinne eines Über-/Unterordnungsverhältnisses beherrsche. Es reiche aus, dass die Mitglieder der MwSt-Gruppe durch finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen verbunden seien.

Mitglieder sollen selbst Steuerpflichtige (Unternehmer) bleiben

Damit aber nicht genug: Die Generalanwältin stellt die These auf, die Mitglieder der MwSt-Gruppe blieben neben der Gruppe selbst Steuerpflichtige. Zwar fordere nicht nur das deutsche Recht, sondern auch die MwStSystRL eine selbstständige und unabhängige Tätigkeit, um Steuerpflichtiger (Deutsch: Unternehmer) zu sein. Damit sollen jedoch nur Lohn- und Gehaltsempfänger ausgeschlossen werden, nicht aber Mitglieder einer MwSt-Gruppe ihre Selbstständigkeit verlieren. Leistungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe blieben steuerbar. Die vom Vertreter abzugebende Steuererklärung sei eine Zusammenstellung der individuellen Erklärungen der Mitglieder. Die Mitglieder sollen für die Umsatzsteuer als „Gesamtschuldner“ haften.

Praktische Auswirkungen

Die deutsche umsatzsteuerliche Organschaft liegt angezählt am Boden – so viel lässt sich sagen. Ein Schlussantrag ist allerdings noch kein Urteil. Der EuGH macht sich die Auffassung der Generalanwält*innen zwar häufig zu Eigen – zwingend ist das aber nicht. Dass die MwSt-Gruppe selbst Steuerpflichtiger ist, hat der EuGH schon in den Rechtssachen Skandia America (C-7/13), Amplifin (C-162/07) und Danske Bank (C-812/19) entschieden, sodass damit zu rechnen ist, dass der EuGH die Schlussanträge insoweit bestätigt. Diese Entscheidungen sprechen aber auf der anderen Seite auch dafür, die Mitglieder der Gruppe nicht zusätzlich als Steuerpflichtige anzusehen.

Auch für den Fall, dass der EuGH vollständig im Sinne der Generalanwältin entscheiden sollte, ergibt sich hinsichtlich der konkreten Auswirkungen in Deutschland eine Kaskade von Fragen:

  • Wird der BFH § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als nicht anwendbar betrachten? Eine unionsrechtskonforme Auslegung dürfte am Wortlaut scheitern, es besteht aber theoretisch auch die Möglichkeit der unionsrechtlich modifizierten Anwendung. Dabei können unionsrechtswidrige Tatbestände ausgeblendet und unionsrechtlich gebotene hineingelesen werden. Denkbar erscheint eine Auslegung, nach der die Gruppe zwar Steuerpflichtiger ist, die Steuererklärungen des Organträgers aber als in Vertretung der Gruppe abgegeben gelten. Nicht gelöst wäre damit aber das Problem der steuerbaren Innenumsätze, durch die es im Rahmen der Gruppenerklärung zu einem Steuernachteil kommt, wenn Mitglieder der Gruppe nicht (voll) zum Vorsteuerabzug berechtigt sind.
  • Wenn § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als nicht anwendbar betrachtet wird, stellt sich die Frage, wie Organschaften bis zum Erlass einer Neuregelung besteuert werden. Der BFH hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob man sich dann unmittelbar auf die Regelung der MwStSystRL berufen kann. Leider hat der EuGH die Generalanwältin ersucht, sich hiermit nicht zu befassen. Allerdings hatte der EuGH zu dieser Frage bereits in den Rechtssachen Larentia + Minerva und Marenave (C-108/14, C-109/14) Stellung genommen und die MwStSystRL insoweit nicht als unmittelbar anwendbar bezeichnet. Wenn in Deutschland keine unionsrechtkonforme Regelung zur MwSt-Gruppe besteht, ist auch denkbar, dass bis zum Erlass einer Neuregelung alle Mitglieder einzeln besteuert werden.
  • Hinsichtlich der Neuregelung stellt sich dann die Frage der Rückwirkung. Der EuGH selbst könnte die Urteilswirkungen für die Vergangenheit ausnahmsweise aus Gründen der Rechtssicherheit beschränken, wenn eine objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Bestimmungen des Unionsrechts bestand und das Urteil weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen hat. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, finanzielle Auswirkungen allein reichen nicht.

Für deutsche Umsatzsteuer-Organkreise stellt sich die Frage, ob sich aus dieser Entwicklung ein Vorteil ergibt und sie gegen bereits ergangene Steuerbescheide oder auch gegen ihre eigenen Umsatzsteuervoranmeldungen Einspruch einlegen und das Ruhen des Verfahrens beantragen sollten, bis das Thema durch den BFH geklärt ist. Die möglichen Vor- und Nachteile sollten unbedingt sorgfältig und individuell für jeden Einzelfall abgewogen werden, bevor dieser Weg beschritten wird, wobei dies wegen der vielen Unwägbarkeiten kein einfaches Unterfangen ist.

Zu hoffen ist, dass EuGH und nachfolgend der BFH die deutschen Organkreise nicht lange im Ungewissen lassen. Sobald der BFH entschieden hat, dürfte auch neuer Schwung in die Reformbemühungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe kommen, die bereits ein Eckpunktepapier zur möglichen künftigen Besteuerungen der Organschaft erarbeitet hatte, das aber wegen der EuGH-Vorlagen auf Eis lag. Dieses Eckpunktepapier beinhaltet auch die von allen ersehnte Antragsorganschaft.

(Stand: 14.02.2022)