Keine Verlagerung des Leistungsortes bei Steuerhinterziehung – EuGH-Urteil C-641/21 vom 27. Oktober 2022

Bei Steuerhinterziehung bzw. Betrug kennt die MwStSystRL kein Pardon: Wenn sich ein Unternehmer daran beteiligt, werden ihm Steuerbefreiungen und Vorsteuerabzug versagt, denn niemand darf sich missbräuchlich auf die MwStSystRL berufen. Was ist aber in Fällen, bei denen sich der Leistungsort nach dem Empfängerortsprinzip in einem anderen EU-Mitgliedstaat befindet und der Empfänger Steuerschuldner ist? Damit der Leistende in diesen Konstellationen sanktioniert werden kann, erwog das österreichische Bundesfinanzgericht, das Empfängerortsprinzip auszusetzen und die Leistung im Mitgliedstaat des Leistenden zu besteuern.

Sachverhalt: Steuerhinterziehung mit Treibhausgasemissionszertifikaten

Die österreichische Climate Corporation Emissions Trading GmbH übertrug Treibhausgasemissionszertifikate gegen Entgelt an eine deutsche GmbH. Hierbei handelte es sich nach der Rechtsprechung des EuGH nicht um eine Lieferung, sondern um eine Dienstleistung, die nach Art. 44 MwStSystRL bzw. § 3a Abs. 2 UStG am Empfängerort in Deutschland steuerbar war. Da die Climate Corporation in Deutschland nicht ansässig war, fand das Reverse-Charge-Verfahren Anwendung.

Die zuständigen Behörden ermittelten, dass die deutsche GmbH als „Missing Trader“ an einer Steuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt war, was die Climate Corporation wusste oder zumindest hätte wissen müssen.

Vorlagefrage: Ausnahme vom Empfängerortsprinzip?

Das österreichische Bundesfinanzgericht fragte, ob in einer solchen Konstellation der Leistungsort ausnahmsweise entgegen Art. 44 MwStSystRL am Ort des leistenden Unternehmers liege, also in Österreich. Hintergrund dieser Frage war die folgende Überlegung: Hätte es sich nicht um eine Dienstleistung, sondern um eine Warenlieferung gehandelt, wäre diese in Österreich steuerbar, aber grundsätzlich als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei gewesen. Diese Steuerfreiheit hätte aufgrund der Beteiligung an einer Steuerhinterziehung versagt werden müssen, sodass die Climate Corporation in Österreich Umsatzsteuer hätte bezahlen müssen. Weil die Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten aber eine Dienstleistung ist und der Leistungsort beim Empfänger in Deutschland liegt, besteht keine Möglichkeit, die Climate Corporation zur Umsatzsteuer heranzuziehen.

EuGH: Innergemeinschaftliche Lieferungen und innergemeinschaftliche Dienstleistungen können nicht gleich behandelt werden

Der EuGH erkannte die Vergleichbarkeit von innergemeinschaftlichen Lieferungen und innergemeinschaftlichen Dienstleistungen zwar in tatsächlicher Hinsicht an, rechtlich seien beide durch die MwStSystRL jedoch grundlegend unterschiedlich geregelt: Bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung liege der Leistungsort in dem Mitgliedstaat, in dem die Warenbewegung beginnt. Der betreffende Mitgliedstaat könne die Steuerbefreiung versagen, wenn sich der Lieferant missbräuchlich oder betrügerisch darauf beruft. Diese Maßnahme betreffe die Geltendmachung eines Rechts. Bei einer grenzüberschreitenden Dienstleistung liege der Leistungsort hingegen von vornherein nicht im Ursprungsmitgliedstaat, sondern am Empfängerort. Die Veränderung des Leistungsortes stünde im Widerspruch zu den Zielen und der Systematik der MwStSystRL und würde bedeuten, die Besteuerungsbefugnis ohne jeden Rechtsgrund auf einen anderen Mitgliedstaat zu übertragen.

Innergemeinschaftliche Lieferungen und innergemeinschaftliche Dienstleistungen seien bei Betrug und Missbrauch folglich nicht gleich zu behandeln, insbesondere sei der Leistungsort nicht in den Ursprungsmitgliedstaat zu verlagern.

Einordnung

Die Entscheidung war zu erwarten, da die Änderung des Leistungsortes einen zu großen Eingriff in das System der MwStSystRL bedeutet hätte. Die Vorlagefrage des österreichischen Bundesfinanzgerichts dürfte auch dadurch motiviert gewesen sein, dass das Finanzamt die Übertragung der Treibhausgasemissionszertifikate zunächst als Lieferung eingeordnet hatte und nun versucht werden sollte, rechtlich auch bei einer Qualifizierung als Dienstleistung dasselbe Ergebnis zu erzielen.

Das Urteil sagt allerdings nichts über die Kehrseite der Medaille aus, nämlich über den Reverse-Charge-Umsatz im Bestimmungsland Deutschland. Die deutsche GmbH wird Steuerschuldner für den in Deutschland steuerbaren Umsatz der Climate Emissions, wofür sie bei regulärem Ablauf auch ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen könnte. Mit dem Argument, dass Rechte aus der MwStSystRL nicht missbräuchlich oder betrügerisch geltend gemacht werden dürfen, könnte dieser Vorsteuerabzug versagt werden. In Deutschland ist dies in § 25f Abs. 1 Nr. 4 UStG explizit gesetzlich geregelt, und auch in Österreich gibt es eine entsprechende (wenn auch nicht konkret auf das Reverse-Charge-Verfahren bezogene) Regelung. In Mitgliedstaaten, in denen eine gesetzliche Regelung fehlt, kann die Versagung des Vorsteuerabzugs unmittelbar aus der EuGH-Rechtsprechung abgeleitet werden.

Stand: 10. Februar 2023