Vorsteuerabzug bei Ist-Versteuerung des Leistenden - Schlussantrag "Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße" (C-9/20)

Das Finanzgericht Hamburg (1 K 337/17) hatte am 10. Dezember 2019 beschlossen, dem EuGH die Frage vorzulegen, wann für den Leistungsempfänger das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Leistende von der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Ist-Versteuerung) Gebrauch macht. Der Generalanwalt schlägt dem EuGH in seinem Schlussantrag (9. September 2021, C-9/20) vor, die entsprechende deutsche gesetzliche Regelung für nicht mit der MwStSystRL vereinbar zu erklären.

Fall: Mieter macht Vorsteuer aus Mietrechnung erst im Monat der Zahlung geltend

Im zugrunde liegenden Fall vermietete ein Unternehmer steuerpflichtig eine Immobilie an einen anderen Unternehmer und stellte hierfür eine Dauerrechnung aus. Der Vermieter machte von der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Ist-Versteuerung) nach § 20 UStG Gebrauch. Dadurch entsteht die Umsatzsteuer für die Vermietungsleistungen abweichend vom allgemeinen Grundsatz nicht mit Ausführung der Leistung, sondern erst mit der Zahlung der Miete. Aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten zahlte der Mieter die Miete teilweise erst Jahre nach den entsprechenden Mietzeiträumen. Der Mieter machte den Vorsteuerabzug erst im jeweiligen Voranmeldungszeitraum der Zahlung geltend.

Finanzamt: Vorsteuer muss für den jeweiligen Mietzeitraum geltend gemacht werden

Das Finanzamt argumentierte jedoch, dass gem. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG das Recht zum Vorsteuerabzug dann entstehe, wenn die Leistung ausgeführt wurde. Der Mieter hätte den Vorsteuerabzug somit in der Voranmeldung des jeweiligen Mietzeitraums geltend machen müssen. Da diese Zeiträume teilweise bereits festsetzungsverjährt waren, konnte der Mieter die Vorsteuer nicht mehr nachträglich für diese Zeiträume geltend machen.

Vorlagefrage: Ist das deutsche Recht zum Vorsteuerabzug unionsrechtswidrig?

Das FG Hamburg hat daraufhin dem EuGH die Frage vorgelegt, ob § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG mit der MwStSystRL vereinbar sei: Nach Artikel 167 MwStSystRL entsteht der Anspruch auf die Vorsteuer, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht (d. h., wenn der Anspruch des Finanzamtes gegen den Leistenden entsteht). Bei der von der MwStSystRL ausdrücklich zugelassenen Ist-Versteuerung besteht die Besonderheit, dass der Steueranspruch des Finanzamtes erst mit der Zahlung entsteht, sodass nach dem Wortlaut von Artikel 167 MwStSystRL dies auch der Entstehungszeitpunkt für den Vorsteueranspruch sein müsste. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG sei hiermit aber nicht zu vereinbaren, da nach dieser Vorschrift der Vorsteueranspruch auch bei der Ist-Versteuerung mit Ausführung der Leistung entstehen soll.

Das FG Hamburg hat in seinem Vorlagebeschluss verschiedenste Überlegungen dazu angestellt, ob Artikel 167 MwStSystRL wörtlich zu nehmen sei oder ob hierin nur eine Art Leitidee zum Ausdruck komme, von der die Mitgliedstaaten auch abweichen können. Diesen Überlegungen erteilt der Generalanwalt eine Absage und vertritt die Auffassung, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG sei mit dem Unionsrecht unvereinbar.

Empfehlung: Einspruch und Antrag auf Ruhen des Verfahrens in gleich gelagerten Fällen

Die endgültige Entscheidung des EuGH bleibt natürlich abzuwarten. Dass § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG für den Fall der Ist-Versteuerung mit dem Wortlaut von Artikel 167 MwStSystRL nicht zu vereinbaren ist, ist jedoch ein sehr starkes Argument. Es fällt schwer, sich vorzustellen, mit welcher Begründung der EuGH hier zu einem anderen Ergebnis kommen sollte. Wenn der EuGH feststellt, dass der Vorsteuerabzug aus Rechnungen von Ist-Versteuerern im Zeitpunkt der Zahlung geltend zu machen ist, kann sich der Steuerpflichtige in diesem Sinne unmittelbar auf Artikel § 167 berufen. Wem aktuell der Vorsteuerabzug versagt wurde, weil er ihn erst im Zeitpunkt der Zahlung geltend gemacht hat, kann innerhalb der Einspruchsfrist Einspruch einlegen und nach § 363 Abs. 2 AO unter Bezugnahme auf das anhängige EuGH-Verfahren das Ruhen des Verfahrens beantragen. Auch ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 361 Abs. 2 AO wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit von § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG hat aus unserer Sicht Aussicht auf Erfolg.

In anderen Konstellationen ist sorgfältig zu prüfen, ob z. B. Vertrauensschutz gewährt werden kann.

(Stand: 01.10.2021)