Kein Vorsteuerabzug ohne Rechnung, aber fehlerhafte Rechnung kann reichen - EuGH-Urteil "Wilo Salmson France SAS" (C-80/20)

Der EuGH bestätigt mit Urteil vom 21. Oktober 2021 (C-80/20) in der Rechtssache „Wilo Salmson France SAS“: Für den Vorsteuerabzug ist der Besitz einer Rechnung erforderlich. Der Vorsteuerabzug ist für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem die Rechnung vorlag. Dafür muss sie die wesentlichen Merkmale enthalten – andere Merkmale können später mit Rückwirkung ergänzt werden. Wird eine einmal ausgestellte Rechnung, die die wesentlichen Merkmale enthält, einseitig storniert und neu ausgestellt, so bleibt trotzdem der Besteuerungszeitraum der ersten Ausstellung der Rechnung der richtige Zeitraum für den Vorsteuerabzug.

Fehlerhafte Rechnungen aus 2012 wurden 2015 korrigiert

Wilo Salmson (bzw. eine Vorgängergesellschaft) hatte im Jahr 2012 in Rumänien Geräte gekauft, hierfür im selben Jahr Rechnungen mit rumänischer Umsatzsteuer erhalten und für 2012 einen Vorsteuervergütungsantrag gestellt. Die rumänische Behörde wies den Vergütungsantrag ab, weil die Rechnungen nicht alle formellen Rechnungsvoraussetzungen erfüllten. Gegen diese Entscheidung legte Wilo Salmson keinen Einspruch ein. Im Jahr 2015 stornierte der Aussteller die fehlerhaften Rechnungen und stellte sie neu aus. Wilo Salmson machte die Vorsteuer aus den neuen Rechnungen in einem Vorsteuervergütungsantrag für das Jahr 2015 geltend. Auch dieser Vergütungsantrag wurde abgewiesen – mit dem Argument, Wilo Salmson habe die betreffende Vorsteuer bereits 2012 geltend gemacht. Nach einem erfolglosen Einspruch erhob Wilo Salmson Klage; das rumänische Gericht legte den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Ist der Besitz einer Rechnung Voraussetzung für den Vorsteuerabzug?

Das vorlegende Gericht ging davon aus, dass Wilo Salmson im Jahr 2012 keine (gültige) Rechnung besaß, und fragte daher, ob der Besitz einer Rechnung Voraussetzung für den Vorsteuerabzug sei. In diesem Fall wäre Wilo Salmson der Vorsteuerabzug nach Ansicht des Gerichts 2015 zu gewähren gewesen, da erst dann eine (gültige) Rechnung vorlag. Anderenfalls wäre das Jahr 2012 der richtige Vergütungszeitraum – die diesbezügliche Ablehnung ist allerdings bestandskräftig geworden.

Die Generalanwältin war der Ansicht, der Fall Wilo Salmson biete dem EuGH die Gelegenheit, mit der Frage nach der Notwendigkeit einer Rechnung (endlich) eine der wichtigsten Fragen des Mehrwertsteuerrechts zu klären. Der EuGH hatte mit seiner Entscheidung in der Rechtssache „Vădan“ (C-664/16, 21. November 2018) für Aufregung gesorgt, weil er vertreten hatte, die strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, verstoße gegen die Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit. Ob daraus geschlossen werden könne, eine Rechnung sei entbehrlich, wurde danach kontrovers diskutiert.

Vorsteuer muss geltend gemacht werden, sobald eine Rechnung vorliegt, auch wenn sie unwesentliche Fehler enthält

Anders als das vorlegende Gericht geht der EuGH jedoch nicht ohne Weiteres davon aus, dass Wilo Salmson 2012 noch nicht im Besitz einer (gültigen) Rechnung war. Hierfür komme es darauf an, worin genau der Rechnungsmangel bestehe; der EuGH erinnert hier an seine frühere Rechtsprechung. Nur wenn der Formverstoß den sicheren Nachweis verhindere, dass die materiellen Anforderungen für den Vorsteuerabzug vorliegen, dürfe der Vorsteuerabzug versagt werden. Konkret bedeute dies: Die Behörde darf den Vorsteuerabzug nur ablehnen, wenn ein Dokument so fehlerhaft ist, dass der Behörde die zur Begründung des Vergütungsantrags erforderlichen Angaben fehlen und deshalb das Dokument keine „Rechnung“ i. S. d. MwStSystRL sei. Dies müsse das vorlegende Gericht feststellen. Waren in den ursprünglichen Rechnungen alle wesentlichen Angaben enthalten, können die nicht wesentlichen Angaben mit Rückwirkung ergänzt werden. Damit ist die Vorsteuer auch in solchen Fällen in dem Besteuerungszeitraum der ursprünglichen Rechnungsausstellung geltend zu machen.

Die Frage nach der Notwendigkeit einer Rechnung bejaht der EuGH grundsätzlich mit Verweis auf den Wortlaut von Art. 178 a) MwStSystRL. Dieser regelt, dass der Besitz einer Rechnung Ausübungsvoraussetzung für den Vorsteuerabzug ist. Einschränkend wiederholt er seine ständige Rechtsprechung, nach der der Neutralitätsgrundsatz verlange, dass der Vorsteuerabzug trotz formeller Mängel zu gewähren sei, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt seien.

Der EuGH stellt außerdem klar, dass der Vorsteuerabzug in dem Besteuerungszeitraum geltend zu machen sei, in dem beide Voraussetzungen erstmals kumulativ vorliegen, nämlich die Entstehung der Steuer und der Besitz einer Rechnung, die die wesentlichen Angaben enthält.

Neuausstellung ist kein Rettungsanker für Fristversäumnis

Besonders interessant sind die Ausführungen des EuGHs zu den Auswirkungen der Stornierung und Neuausstellung der Rechnungen und der Frage, ob die Stornierung das einmal entstandene Recht auf Vorsteuerabzug entfallen lassen kann. Wäre dies der Fall, könnten Steuerpflichtige, die die Ausschlussfrist des 30. Septembers des Folgejahres versäumt haben, den Rechnungsaussteller um Neuausstellung der Rechnung bitten und die Vorsteuer dann im späteren, noch nicht verfristeten Besteuerungszeitraum geltend machen. Dem erteilt der EuGH eine Absage und betont, dass es dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe, wenn auf diese Weise der Vorsteuerabzug ohne jede zeitliche Beschränkung geltend gemacht werden könnte.

Praktische Herausforderung: Rechnungsvoraussetzungen genau prüfen

Bereits in der Rechtssache „Terra Baubedarf-Handel“ (C-152/02 vom 29. April 2004) hatte der EuGH entschieden, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in dem Erklärungszeitraum auszuüben sei, in dem sowohl die Leistung erbracht ist als auch die Rechnung vorliegt. Seit dem EuGH-Urteil in der Rechtssache „Senatex“ (C-518/14 vom 15. September 2016) steht fest, dass eine Rechnungskorrektur sowohl zum Vor- als auch zum Nachteil des Steuerpflichtigen Rückwirkung entfalten kann, wenn die ursprüngliche Rechnung zumindest die wesentlichen Angaben enthielt. Für Deutschland hatte der BFH dies dahingehend konkretisiert, dass dies jedenfalls dann der Fall sei, wenn die Rechnung Angaben zum Aussteller, zum Leistungsempfänger, zur Leistungsbeschreibung und zum Entgelt enthalte und Umsatzsteuer gesondert ausweise.

Das vorliegende Urteil macht deutlich, wie wichtig eine sorgfältige Prüfung der Rechnungsvoraussetzungen für den Leistungsempfänger ist: Es genügt nicht zu erkennen, dass eine Rechnung fehlerhaft ist; man muss auch zutreffend beurteilen, wie fehlerhaft sie ist. Dieser feine Unterschied kann Wilo Salmson im vorliegenden Fall noch zum Verhängnis werden: Sollte das bulgarische Gericht feststellen, dass nur unwesentliche Angaben gefehlt haben, hätte Wilo Salmson die Ablehnung des Vergütungsantrags 2012 anfechten müssen. Da die Ablehnung bestandskräftig ist und die Vorsteuern in diesem Fall für das Jahr 2015 nicht geltend gemacht werden können, wären die Vorsteuern endgültig verloren.

Auch wenn das vorlegende Gericht noch prüfen müsse, ob die Rechnung aus dem Jahr 2012 die wesentlichen Angaben enthielt, scheint der EuGH davon auszugehen, dies sei der Fall. Somit musste er sich mit der Frage, ob ein Vorsteuerabzug auch ohne Rechnung möglich sei, nicht auseinandersetzen und konnte sich auf den Verweis auf Artikel 178 a) MwStSystRL beschränken. Die ersehnte Klarstellung in Bezug auf diese Frage ist somit ausgeblieben. Steuerpflichtigen ist dringend zu empfehlen, für den Vorsteuerabzug auf den Erhalt einer Rechnung zu achten.

(Stand: 04.11.2021)