Update: Direktanspruch („Reemtsma-Anspruch“) bei zu Unrecht bezahlter Umsatzsteuer: FG Münster legt dem EuGH vor (C-453/22-1)

Kann der Leistungsempfänger vom Leistenden zu viel bezahlte Umsatzsteuer nicht zurückerlangen, kommt unter bestimmten Voraussetzungen ein Direktanspruch (oder „Reemtsma-Anspruch“) gegen das Finanzamt in Betracht.

Zu den Bedingungen und Ausschlussgründen hatte das Bundesministerium der Finanzen (BMF) sich mit Schreiben vom 12. April 2022 positioniert (Details finden Sie in unserem Webbeitrag). Das FG Münster bringt Bewegung in das Thema und legt einen Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor (C-453/22-1), Beschluss vom 27. Juni 2022, 15 K 2327/20 AO.

Sachverhalt

Der Kläger hatte in den Jahren 2011–2013 Holz eingekauft und dafür Rechnungen mit 19 % Umsatzsteuer erhalten und bezahlt. Eine spätere Betriebsprüfung ergab jedoch, dass der ermäßigte Steuersatz von 7 % anzuwenden gewesen wäre. Das Finanzamt des Klägers reduzierte daher den Vorsteuerabzug entsprechend. Der Kläger bat daraufhin den Verkäufer um korrigierte Rechnungen und um Erstattung der überhöhten Umsatzsteuer. Der Verkäufer erhob jedoch die Einrede der zivilrechtlichen Verjährung und verweigerte Rechnungskorrektur und Erstattung. Daraufhin wandte sich der Kläger an das Finanzamt, um unter Berufung auf die „Reemtsma“-Rechtsprechung des EuGH, die die deutschen Finanzgerichte und auch die Finanzverwaltung dem Grunde nach anerkennen, einen Direktanspruch auf Erstattung der Umsatzsteuer gegen das Finanzamt geltend zu machen. Er beanspruchte zusätzlich Zinsen auf den Umsatzsteuerbetrag. Gegen die Ablehnung des Finanzamtes erhob er Klage zum FG Münster.

Vorlagefragen

Das FG Münster stellt nur eine einzige Vorlagefrage; aus der Formulierung „unter den Umständen des Ausgangsverfahrens“ und der Begründung ergeben sich daraus aber drei klärungsbedürftige Aspekte:

  1. Kann der Leistungsempfänger einen Direktanspruch geltend machen, solange der Leistende den unrichtigen Steuerausweis in der Rechnung noch nach § 14c Abs. 1 i. V. m. § 17 UStG berichtigen kann? Die Finanzverwaltung ist ausweislich des BMF-Schreibens vom 12. April 2022 der Auffassung, dass dies nicht zulässig sei. Das FG Münster stellt heraus, dass eine Korrektur der Umsatzsteuer für den Leistenden zeitlich unbegrenzt möglich sei. Es könne damit der Fall eintreten, dass der Leistende die Umsatzsteuer vom Finanzamt doch noch zurückfordert, der dann (wieder) entstehende Erstattungsanspruch des Finanzamts gegen den Leistungsempfänger jedoch ins Leere läuft, weil dieser z. B. zwischenzeitlich zahlungsunfähig geworden ist. Daher komme ein Direktanspruch nur dann in Betracht, wenn feststehe, dass das Finanzamt nicht ein zweites Mal in Anspruch genommen werden kann.
  2. Kommt ein Direktanspruch auch dann in Betracht, wenn der Erstattungsanspruch gegen den Leistenden nicht mehr durchsetzbar ist, weil dieser die Einrede der Verjährung erhoben hat?Kann vom Leistungsempfänger verlangt werden, dass er die Verjährung durch entsprechende Maßnahmen hemmt? Das FG Münster verweist darauf, dass nach der Rechtsprechung des EuGH der Erstattungsanspruch gegen den Leistenden unmöglich oder übermäßig erschwert sein muss. Die bisher entschiedenen Fälle betrafen i. d. R. eine Zahlungsunfähigkeit des Leistenden, die hier aber nicht vorliege. Es sei daher klärungsbedürftig, ob es ausreiche, dass sich der Leistende auf Verjährung beruft. Nach Auffassung des FG Münster hätte der Kläger zudem Vorkehrungen zur Sicherung seiner zivilrechtlichen Ansprüche treffen müssen, z. B. durch rechtzeitige Einholung des Verzichts auf die Einrede der Verjährung.
  3. Umfasst der Direktanspruch auch Zinsen? Falls der EuGH einen Direktanspruch bejahen sollte, so bestehe nach Auffassung des FG Münster jedenfalls kein Anspruch des Leistungsempfängers auf Zinsen nach § 233a AO, denn die Zinsen seien in einem Zeitraum vor der Geltendmachung des Direktanspruchs entstanden.

Praktische Einordnung

Das BMF hat den Direktanspruch mit seinem Schreiben vom 12. April 2022 in ein sehr enges Korsett gepresst. Der Fiskus möchte kein Risiko eingehen und dem Leistungsempfänger erst und nur dann die Umsatzsteuer direkt erstatten, wenn ausgeschlossen ist, dass er (der Fiskus) vom Leistenden nochmals in Anspruch genommen wird. Das ist aus Sicht des Fiskus zwar nachvollziehbar, aber diese Risikoverteilung widerspricht der Rolle des Unternehmers als Steuereinsammler für den Staat. Wie das FG Münster zu Recht angeführt hat, kann der Leistende Rechnung und geschuldete Umsatzsteuer nach § 14c UStG zeitlich unbegrenzt korrigieren. Macht man den Direktanspruch davon abhängig, läuft er ins Leere. Es ist daher sehr zu hoffen, dass der EuGH hier im Sinne der Unternehmer entscheidet.

Dass der Leistungsempfänger aktiv Maßnahmen ergreifen muss, um die Verjährung zu hemmen, lässt sich aus der EuGH-Rechtsprechung nicht ableiten. Insbesondere der Verweis des FG Münster, der Kläger hätte den Verzicht auf die Einrede der Verjährung „einholen“ können, erscheint wenig praxisnah: Wer nicht zahlen will, wird auf die Verjährung nicht freiwillig verzichten.

Wer in ähnlich gelagerten Fällen bis zum Ergehen des EuGH-Urteils sichergehen will, sollte jedoch andere verjährungshemmende Maßnahmen nach den §§ 203 ff. BGB in Erwägung ziehen – allen voran die Erhebung einer Klage gegen den Leistenden.